2021 beginnt für mich mit Atelier Obliques Beton Brut …

… den ich schon letztes Jahr auf meiner Liste hatte, halb vorbereitet, bis es mich krankheitstechnisch erwischt hat. Der eine oder die andere hat es sicherlich festgestellt – ich war länger nicht mehr „on board“ oder vielmehr „on blog“. Deshalb an dieser Stelle von mir ganz persönlich noch ein paar Worte vorab: Ich hoffe sehr, dass Ihr trotz der doch ziemlich ungewohnten Umstände dennoch ein schönes und vielleicht in der Tat (einmal) besinnliches Weihnachtsfest im (kleinen) Kreis Eurer Lieben feiern konntet und in und mit eben diesem gut ins neue Jahr gerutscht seid – gesund, wohlgemerkt! Auf dass es besser werde als das alte, das man zumindest meiner bescheidenen Meinung nach getrost aus den Annalen streichen könnte – das wünsche ich mir für uns alle!

Einer meiner letzten Blogartikel 2020 beschäftigte sich bereits mit einem nicht mehr ganz neuen Duft von Atelier Oblique, der Marke aus der Hauptstadt, hinter der der Kommunikationsdesigner Mario Lombardo steht – Bohemian Woods, seht hier. Bohemian Woods ist aus 2018/19, die (ersten) Düfte, die uns vorher aus Berlin erreichten, als die Marke 2018 lanciert wurde, hatte ich ebenfalls schon hier rezensiert – für die Neugierigen, die diese verpasst haben, der Einfachheit halber gerne hier klicken:

2020 folgte ein weiteres Duo, und zwar Beton Brut sowie Voodoo Flowers, die ich mir heute und morgen stellvertretend für Euch unter die Nase klemmen werde.

Von Emotionen, Purismus & Authentizität – Beton Brut

„Beton und Poesie. Rohe Schönheit. Ein Haus als Duftbild. Material in Verwandlung. Außen wird innen. Die Weite und Freiheit öffnen sich. „Form follows emotion. Emotion follows senses.“ Ein Duft wie ein Wolkenbett, das sich an weite Fenster schmiegt. Wie massive Wände, die feuchte Erde berühren. Sattes Grün trifft harte Kanten. Ein Kunstwerk aus Glas, Stahl und Beton, das sich unwillkürlich in die Umgebung einfügt. Wie ein Gemälde, eine Fantasie, umgeben von radikalem Raum. Das Duftbild von Beton Brut – weite Räume, gefüllt mit dem Klang von Grün, samtenen Blumen und kühlem Marmor. Architektur trifft auf Natur und spricht Poesie. Ein frischer Wind aus Bambus, Bergamotte und wilden Kräutern umweht einen Raum aus bronzenen Flächen und grünem Naturstein. Ein Zimmer, akzentuiert gestaltet und zugleich natürlich erhaben. In den Tiefen besteht das Duftgebäude aus würzigen Safrannoten und edlen Hölzern, die mit einem Traum aus kühlen Materialien, als Bild der Freiheit und Endlosigkeit, ein stilvolles Statement setzen.

Ein Parfum der Moderne. Elegant, markant und formvollendet.“

Die Ingredienzen:
Kopfnote: Bergamotte, Koriander, Kamille, Bambus
Herznote: Grüne Noten, Safran, Salbei, Veilchenblätter
Basisnote: Patchouli, Adlerholz (Oud), Moschus, Leder

Parfumeur: Serge de Oliveira

Die Beschreibung von Beton Brut seitens Atelier Oblique bietet selbstredend jede Menge „Futter“ für Design- und Architekturinteressierte als auch -begeisterte: „Form follows emotion. Emotion follow senses.“ – worauf bezieht man sich hier? Auf einen oder besser zwei Gestaltungsleitsätze. Der Ursprung: „Form follows function“, ein (Teil)Zitat des amerikanischen Architekten Louis Henry Sullivan aus dem Jahr 1894), das später durch die Bauhaus-Bewegung aufgegriffen wurde (wobei hier in der Tat strittig ist, ob diese es wirklich (konsequent) umgesetzt haben, siehe z. B. hier). Die Form, ergo die (Aus)Gestaltung der „Dinge“, Gebrauchsgegenstände als auch Häuser und so weiter, solle sich aus ihrer Form, ergo ihres Bestimmungszwecks, ihres Nutzens heraus ableiten. Sullivans Form-Postulat wurde ab den späten Sechszigern, Siebzigern mehrfach erweitert oder auch uminterpretiert – so beispielsweise, zweiter Gestaltungsleitsatz, von Hartmut Esslinger, deutsch-amerikanischer Produktdesigner, Gründer von frog design/Frog Design Inc. und  allen von uns bekannt durch mindestens zwei seiner Schöpfungen, das Design von … tadaaa: Apple sowie dem Windows Media Player.

Zu Esslinger stehen unter anderem auf der Seite des red dot Design Museums ein paar interessante zusammenfassende Zeilen:

„„Form follows emotion“ ist ein Gestaltungsansatz, der vom deutsch-US-amerikanischen Designer Hartmut Esslinger (*1944), dem Gründer von frogdesign, geprägt wurde. Esslinger kritisierte in den 1980er Jahren die noch junge Hightech-Industrie dafür, dass ihre Produkte für den Massenmarkt wie rein technische Instrumente aussähen. Er wiederum wollte, dass der Anblick, vor allem aber der Gebrauch solcher Produkte zu einem emotionalen, sinnlich aufgeladenen Vorgang wird. Esslingers Ziel war es, das Verhältnis von Menschen und Geräten mitzuformen und ihnen dadurch den Zugang zu technischen Produkten zu erleichtern. Dieser Ansatz führte 1982 zur Zusammenarbeit mit Apple und mündete 1984 in der Vorstellung des Apple IIc, des ersten Apple-Computers im Snow-White-Design, der zu einer Produktikone und zum Vorbild für ganze Generationen von Designern geworden ist.“

Wer neugierig geworden ist – hier entlang (englisch), dort findet sich einiges zu Esslingers Lebenslauf und Werdegang. Ein gebürtiger Schwarzwälder im übrigen 🙂 Bei W&V könnt Ihr ein (deutsches) Interview mit Esslinger lesen, seht hier.

„Die Erfüllung von emotionalen Bedürfnissen ist genauso wichtig wie Funktionalität.“ – Hartmut Esslinger im Vorwort zu Emotion gestalten

Und was heißt das konkret? Man mag es sich schon denken können. Der Terminus Emotion kommt aus der lateinischen Sprache, von herausbewegen, in Bewegung setzen, herausheben, auch: erschüttern, aus den Angeln heben. Grundlegend für viele, wenn nicht alle Produkte, die lanciert werden, um Käufer zu finden: ein emotionaler Faktor sollte gegeben sein, der den Kunden anspricht, das Produkt von seinen Konkurrenten unterscheidet, abhebt. Storytelling, ein vor allem im Beautysegment oft bemühtes (und leider auch oft allzu inhaltsleer bleibendes) Wörtchen bezeichnet nur ein (obschon gewichtiges) Werkzeug dazu. Der allererste Eindruck eines „Dings“, seine Anmutung, ruft im besten Fall bereits Emotionen hervor – durch seine Beschaffenheit, seine Form, sein Material beziehungsweise seinen Stoff.

Bei mir rufen Duftname als auch -beschreibung noch weitere Assoziationen wach – an eine davon dachte Lombardo auch bei der Namenswahl seines Parfums: „béton brut“, der rohe Beton, ist die Bezeichnung einer architektonischen Strömung der Fünfziger, entstanden vor allem durch den Einfluss des britischen Doppels Alison und Peter Smithson sowie Le Corbusier (siehe: Marseille ab 1947, Unité d’Habitation). Harte Schale, authentischer Kern – so könnte man es vielleicht etwas trivial auf den gedanklichen Punkt bringen: offene Betonwände und sichtbare Konstruktionen als Gestaltungsmittel, der Verzicht auf Dekoration und (überflüssige) Schnörkel. Ästhetisch auf eine Weise radikal und entgegen der „muckelig“-bürgerlichen Post-Weltkriegs-Behaglichkeit, der Idee nach ideologiefrei, wenig verwunderlich in Anbetracht der (Nachkriegs)Zeit. Viele phantastische Bauten und Skulpturen entstanden, und dennoch zog der Brutalismus mit seiner für viele „unvollendeten“ Optik, seinem rauen Naturell den Hass vieler auf sich, was unter anderem in den folgenden Jahrzehnten dazu führte, dass etliche Bauwerke abgerissen wurden. Erst in den, ich meine, letzten Jahren, den letzten ein, zwei Jahrzehnten erlangte er neue Würdigung und man war (und ist) bestrebt, seine verbleibenden Zeugnisse zu bewahren, deren rohe Schönheit und Komplexität sich häufig erst auf den zweiten (und vor allem auch geneigten) Blick erschließt. Bauwerke des Brutalismus finden sich weltweit, so unter anderem in London das Royal Theatre, das von Prinz Charles Ende der Achtziger als

Wer sich ein wenig mehr mit dem Thema beschäftigen möchte – siehe zum Beispiel hier:

Hässlich, wird sich der eine oder die andere sicherlich denken, oder nicht? Ich persönlich liebe den Brutalismus. Und mag hier einige Gegenbeispiele bringen, die sicherlich argumentatives Gewicht besitzen. Eines meiner liebsten Beispiele: der spanische Stararchitekten Ricardo Bofill, der einige dieser Gebäude umgestaltet hat, siehe zum Beispiel hier oder hier. Noch mehr Überzeugungskraft besitzt seine eigene Wohn- und Wirkstätte, eine von ihm erworbene und umgebaute alte Zementfabrik in der Nähe von Barcelona – die müsst Ihr Euch ansehen, falls Ihr sie noch nicht kennt, klick. Oder, in bewegten Bildern:

Mit Sichtbeton arbeiten bis heute diverse (Star)Architekten – einer meiner absoluten Favoriten ist Tadao Ando, bekannt unter anderem für seine in meinen Augen wunderschöne Ibaraki Kasugaoka Kyōkai, seine Church of Light in Ibaraki:

… oder hier einmal einen Blick riskieren bei AD, Best Of, Concrete Jungle – 18 aufregende Betonbauten. Ehrliche Frage – wer findet unter den Beispielen kein Haus, in das er nicht sofort einziehen würde? Schwaben (wie mir) kommt zum Thema Sichtbeton sicherlich noch ein weiteres Gebäude in den Sinn – das Mercedes Benz-Museum von Ben van Berkel und Carolin Bos (UN Studio) aus Amsterdam.

Bei der Duftbeschreibung von Beton Brut musste ich umgehend an Bofills Wohn“haus“ denken, die Zementfabrik, die auf ewig in meiner Top-5-Liste der Wohnstätten rangiert, für die ich mir sofort Hände und Füße ausreißen würde, genauso wie an einen weiteren Anwärter aus dieser Liste, an die Anfang der Sechziger von John Lautner geschaffene Sheats-Goldstein Residence in Los Angeles (off topic, dennoch nebenbei bemerkt – ein weiterer Kandidat ist und bleibt ganz klar eine ein architektonischer Everybodys Darling und gleichermaßen eine ebensolche Ikone von Lautners Lehrmeister, von Frank Lloyd Wright, und zwar sein Kaufman-Haus, besser bekannt unter dem Namen Fallingwater).

Bofills Zementfabrik sowie Lautners Sheats-Goldstein Residence (kein Brutalismus, trotzdem) passen für mich perfekt zu Beton Bruts Begleittext – pure, ehrliche Materialien, Beton, Glas, Stahl, Holz, klare Linienführung und der Reiz, der sich aus der Gegensätzlichkeit derselben sowie aus der überbordenden Begrünung ergibt, den mitunter absichtlich verwischenden Trennungen zwischen Innen und Außen, zwischen Gebäude und Natur.

Wie setzt man so etwas duftend um? Könnte es in die Richtung gehen, die wir von Avantgarde-Düften wie beispielsweise von CdG, Andrea Maack und Konsorten kennen?

Ein ganz klares JEIN 😉 Nein, weil mir kein auch nur im Ansatz ähnlicher Duft bekannt ist wie Beton Brut. Und ja, weil er sich durchaus gut in der duftenden Riege, der genannten, machen würde. Safran ist unverkennbar enthalten, jene matt-„dumpfe“, eigen- sowie einzigartig charakteristische Note jener kostbaren Ingredienz, die getragen wird von balsamisch-würzigem Oud, verhalten rauchig und vor allem auch ledrig. Irgendwo im olfaktorischen „Nirgendwo“ versteckt sich im Lederdickicht etwas, das mich an einen Oud-Liebling von mir erinnert, einen alten Bekannten von Montale, deren Aoud Cuir d’Arabie. Über diesen schrieb irgendwo auf einem amerikanischen Parfumplattform – Basenotes oder Makeupalley, meine ich – einmal jemand etwas von dem „Geruch von Mullbinden“, der sich zwar seltsam lese bzw. anhöre, aber nichts weniger sei als „sexy as hell“. Dem konnte ich mich nur uneingeschränkt anschließen – und erschnuppere in Beton Brut eine ebensolche Komponente. Diese sexy Safranleder-Facette ist mächtig und markant, passt demnach ziemlich perfekt zur Brutalismusinspiration, lässt darüber hinaus aber auch die Natur nicht außen vor: tatsächlich, sachte, sanfte Noten von Kamille nehme ich wahr, darüber hinaus aromatisches, vornehmlich dunkel-schillerndes Grün, ernst, ein klitzeklein wenig krautig sowie von einer an Papyrus gemahnenden bitteren Herbheit, umweht von einer frisch-hellgrünen, minzig-bambusartigen als auch zitrusgesprenkelten Brise.

Keine Frage, Beton Brut ist ein Unisex-Duft, ein moderner, gleichwohl zeitloser. Extrem eigenständig und innovativ, ein Charakterduft und olfaktorisches Statement, dennoch überaus tragbar. Mich hat er umgehend für sich eingenommen, wie eigentlich nicht anders zu erwarten bei der Marke und dem Motto 😉

Morgen schauen wir uns Voodoo Flowers an – bis dahin alles Liebe und eine schöne Woche,

herzlichst,

Eure Ulrike

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Ulrike Knöll Verfasst von:

Meine Liebe gilt seit jeher dem Ästhetischen: Mir geht das Herz auf bei jeglichen Dingen, die durch Form, Funktionalität, Design und Herzblut zu überzeugen wissen. Und wenn dann noch ein Quäntchen Historie dazu kommt, ist es meist ganz um mich geschehen … Ich bin der Nischenparfümerie mit Haut und Haaren verfallen und immer auf der Suche nach dem – oder vielmehr: einem – neuen heiligen Gral. Diese Suche sowie mein ganzes Interesse und meine Begeisterung möchte ich gerne mit Euch teilen!

Ein Kommentar

  1. Katharina Wenndorff
    23. Februar 2021
    Antworten

    Wie gut, daß die Geschmäcker verschieden sind.
    Ich bin zB ein großer Befürworter von „Baut endlich wieder schöne Häuser!“ 😉
    Die modernen Sichtbeton-Bauten empfinde ich persönlich einfach als ein GRAUen.
    Und ich würde auch nicht nach Prag oder Paris reisen um da mal die modernen Betonpaläste anzuschauen.
    Gerade auch bei modernen Wohnkubi muß ich oft zweimal hinsehen um zu erkennen, ob es ein Funktionsbau ist oder ob die Häßlichkeit gewollt ist.
    Die schmucklose Bauhaus-Ästhetik à la Parkgarage finde ich unerträglich.
    Das hat nichts mit dem ästhetischen Minimalismus zB der Japaner zu tun. Es wirkt fast immer wie gewollt und nicht gekonnt.

    Aber ich muß sagen – dann und wann lasse ich mich doch gern mal von der Beton-Stimmung mitreißen.
    Und zwar im Februar, auch im März falls es noch kalt ist.
    Ich unterscheide bei meinen Düften nämlich weniger nach Anlaß und Tag sondern nach Jahreszeit und Wetter. Der Februar ist karg, nüchtern, schmucklos und trostlos, wie eine verlassene Tiefgarage.
    Im Februar kriege ich dann auch traditionell meine Winterdepression. Alles hat sowas Stoisches zu dieser Jahreszeit. Und weil sich diese Stimmung eh nicht vertreiben läßt, surfe ich auf der Depri-Welle – auch mit dem passenden Duft.

    Der Januar zb hat bei mir noch einen sanften Glamour, sogar der November hat eine romantisch-melancholische Poesie, dagegen dem Februar ist jeder Humor verloren gegangen.
    Am besten transportiert dieses Gefühl für mich der Duft Ginger & Nutmeg von Jo Malone.
    Wenn ich den aufsprühe, habe ich immer eine alte Turnhalle vor Augen. So mit abgewetztem Linoleumboden, Pauschenpferden und Medizinbällen aus altem Leder und dem Geruch nach Blut, Schweiß und Tränen. 😉

    Ich würde also nie im Winter einen Sommer-Duft aufsprühen um den Winterblues zu vertreiben. Das klappt eh nicht, und Sommerdüfte erinnern einen ja auch nur dann an den Sommer wenn man sie nicht schon den ganzen Winter über gerochen hat.
    Ich finde auch man kann sich Düfte kaputtriechen, so wie man sich Lieder kaputthören kann.
    Also jeder Duft zu seiner Zeit.
    So eine karg zelebrierte Zeit, gerne auch in Kombination mit Fastenzeit, macht auch einfach mal den Kopf frei… und hinterher wieder Lust auf was Üppigeres, Verspielteres, auch in Sachen Düften.

    Übrigens bin ich immer auf der Suche nach Duftvorschlägen, die eine bestimmte Jahreszeiten-Stimmung widerspiegeln. 🙂

    Viele liebe Grüße
    Katharina

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