I am Trash – auf diesen herrlich provokanten Namen hört der Neue von Etat Libre d’Orange, der französischen Krawallo-Pop-Art-Duftschmiede, wie ich sie immer liebevoll nenne. Wer die Firma noch nicht kennt, sollte sich unbedingt einmal näher mit ihr beschäftigen, meine Lieben!
Etat Libre d’Orange – die olfaktorischen Revoluzzer
Hinter der Marke steht Etienne de Swardt, der diese 2006 in Frankfreich gründete. „Le parfum est mort, vive le parfum!“ ist der Slogan des Hauses, das anfänglich vor allem mit seinem Duft Sécrétions Magnifique von sich reden machte, dem Duft, der Körperausscheidungen huldigt – gemeint sind vor allem Blut, Schweiß und Sperma, was dem Konzeptduft bei mir den Beinamen „der tote Seeräuber“ einbrachte. Sollte jemand nun das Gesicht verziehen – genau das war beabsichtigt bei und mit dem exzellent gemachten, aber eben sperrigen Parfum. Die Riege der Parfumeure, die bisher für EldO tätig waren, liest sich wie ein Who is Who der Branche – Antoine Maisondieu und Antoine Lie, Shyamala Maisondieu, Christine Nagel, Ralf Schwieger, Mathilde Bijaoui, Nathalie Feisthauer und andere, eine ansehnliche Versammlung.
Hier zwei Videoclips zum Gründer, der erste davon bereits ein wenig älter, zweiterer aus 2017:
„Etat Libre d’Orange is an ambitious, audacious perfumery — passionate, exuberant, liberated. Free to create. Free to love and be loved. This is a different kind of perfumery — intelligent, with a point of view. A whimsical perfumery that uses irony to hone the names of its scents. A spirited perfumery that shakes up prejudices and stirs up ambiguities. A perfumery that plays with ideas and reinvents the pleasures to be found in the sense of smell, through sublime, delicately composed juices. These are juices composed from first-rate, living matter that fuses with the skin so they can only belong to the person who wears them. Juices that are fashioned without constraint or compromise. Juices that are designed to disturb, to touch, to tempt, to thrill. And seduce, seduce, seduce. Juices that are created to extend the confines of perfume, to overcome the forbidden, to break the rules. To rebel. To exist, at last.“
Die Marke hat Schmackes – und außer ihrem Kracher Sécrétions Magnifique auch einiges anderes in petto: zwei besondere Düfte für zwei besondere VIP-Frauen und Schauspielerinnen beispielsweise, nämlich Eau de Protection für Rossy de Palma und Like This! für Tilda Swinton. Rossy de Palma ist, ich glaube das kann man schon so sagen, eine Muse des spanischen Regisseurs und Oscargewinners Pedro Almodóvar und eine herrlich vielseitige, wandlungsfähige Charakterdarstellerin. Ihr EldO-Duft ist eine schöne, samtig-metallische Rose. Zu Tilda Swinton muss man wahrscheinlich eher weniger Worte verlieren – die einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammende Oscargewinnerin ist ebenfalls eine Charakterdarstellerin und weltberühmt. Ihr Duft ist einer meiner All-Time-Faves, ein einhüllender, wärmender Schöngeist mit innovativen Kürbis- und Karottennoten, der an den schottischen Herbst erinnern soll.
Darüber hinaus sollte man, wenn man von Etat Libre d’Orange spricht, sicherlich noch deren Marquis de Sade-Duftprojekt erwähnen, Attaquer le Soleil, ich hatte dazu im Rahmen der Pitti-Berichterstattung einiges geschrieben, seht hier. Weitere „Anspieltipps“: Jasmin et Cigarette und Divin‘ Enfant, der Fat Electrician oder oder oder … Liebhaber der Marke da draußen? Welche Düfte? Vielleicht wird ja unser nächster auch ein Liebling von Euch, von einigen von Euch oder auch von mir? Wir werden sehen …
I am Trash – The most wanted Scent made from the Unwanted
Normalerweise zitiere ich wechselnd die Artikelbeschreibungen der Hersteller, manchmal auch unsere eigenen Übersetzungen, sehr oft von unserem Freund Harmen. Im Falle von Marken, die viel zu sagen haben, gerne auch Gehaltvolles, ziehe ich es allerdings vor, die Originalbeschreibungen zu posten, weil ich sie Euch nicht vorenthalten möchte. Das hat etwas mit Respekt zu tun vor der Kreation, ferner auch damit, dass ich ein alter Korinthenkacker bin, was Worte angeht. Bei Übersetzungen geht immer etwas verloren, vor allem, wenn sie über mehrere Sprachen hinweg vollzogen werden – das Stille Post-Prinzip, wir kennen es vermutlich alle noch aus unserer Kindheit. Deshalb hier der englische (und somit auch vermutlich mindestens einmal übersetzte) Text zu I am Trash:
„By virtue of my mother, I am the son of a forgotten coast, far away in New Caledonia. At the mouth of the Ngoye live the Borindi, who have known since the twilight of the gods the great principle of harmony with Mother Nature: to take from her no more than is necessary while preserving for tomorrow. They understand the future of mankind, and in the shade of the niaouli tree and jacarandas in bloom, they guide our first steps into this new direction for Etat Libre d’Orange.
In the early years of this new millennium, when my children were young and I was a hopeful thirty-year-old, I took them to see an animated film called Titan AE. I learned by heart the introduction, which went something like this: “Once in a while, man unlocks a secret so profound that it can change the universe: fire, electricity, atom splitting. At the dawn of the 21st century, we invented the Titan program . . . ”
There is a jumble of romantic and titanic science fiction poetry that emerges from the slow, sure, and inevitable rocking of wastewaters in the industrial cycle. We want to make this perfume a messenger, in service not only to the survival of the species which results from seduction, but above all in service to the planet where our own miasmas must reflect beauty.
We believe that a new post-religious “jihad” is approaching, coming from an often disillusioned and polluting West, and echoing a new animistic era. Those who have committed crimes against the environment are repenting, and democracies are acknowledging nature as the sacred focal point, meant to be shared. The beliefs of the primitive and ancient tribes are back, and demand our full allegiance. This perfume will carry a universal message: that which is dirty must reflect the beautiful,
“…and wash me clean of the bluish wine stains and the splashes of vomit, Carrying away both rudder and anchor.” (Arthur Rimbaud, The Drunken Boat.)
Les Fleurs du Déchet represents a passage to the adulthood of Sécrétions Magnifiques. It is a counter-revolution for Etat Libre d’Orange, still noisy and disruptive, but ultimately functional. Givaudan, Ogilvy and Etat Libre d’Orange have created a three-fold company in the service of Mother Nature, to offer her a bouquet of forgiveness and let everyone know – loudly and quickly – that soon it will be too late.
Dear world: Do not throw anything away because at the bottom of our trash lies the fermented distillation of great love. The garbage trucks hold flowers that can still bleed, the peels and rinds that can still give. The noxious exhalations have honey notes that can merge with the earth. And there are so many floating concretions, the trash that is thrown into the sea, and the natural waste, the ambergris, mystical symbols, the attitudes of primitive tribes – these must now be reprocessed. To paraphrase and distort Alan Paton: Cry, my beloved planet, for the unborn child; let him not love the earth too deeply, for it is slipping away. So before it’s too late, let us (s)pray to the god of waste, our dear lord of leftovers.
End of sermon. This is a messianic fragrance (in natural spray, of course.)
— Etienne de Swardt“
Um es denjenigen etwas zu vereinfachen, deren Englisch ein bisschen eingerostet ist, fasse ich Euch gerne die Hauptaspekte des neuen olfaktorischen „Anschlags“ von Etat Libre d’Orange zusammen. EdS berichtet davon, dass er dank seiner Mutter von einer „vergessenen Küste“ stammt, weit weg, in Neukaledonien, und dass es dort an der Mündung des Ngoye ein Volk namens Burundi gibt, die seit der Götterdämmerung in perfekter Harmonie mit der Natur leben, was für EdS ein tiefgehendes Verständnis hinsichtlich der Zukunft der Menschheit offenbart und gleichzeitig die ersten Schritte seiner Firma, seiner Marke Etat Libre d’Orange in eine neue Richtung sein soll. Nimm Dir nur soviel wie nötig und denke an das Morgen – das hat etwas mit Einsicht in die eigene Belanglosigkeit (für die Welt, die Weltgeschichte, die Menschheit, die Menschheitsgeschichte und so weiter und so fort) zu tun, da würde mir EdS sicherlich zustimmen. Und es hat deshalb etwas mit Ressourcenschonung zu tun, mit Rücksichtnahme, mit Demut vor seinen Mitmenschen (und deren sowie den eigenen Enkeln) als auch vor allem vor der Natur, der Welt an und für sich, egal ob man sie nun religiös als Schöpfung (welchen Gottes, welcher Götter auch immer) bezeichnet oder nicht. EdS erzählt von einem Kinobesuch mit seinen damals noch kleinen Kindern, Anfang des Jahrtausends, als er sich Titan A. E. ansah, einen (mäßig erfolgreichen) Animationsfilm, an dem ihn die Einleitung beeindruckte, die ungefähr so klang: „Hin und wieder lüftet der Mensch ein Geheimnis, das so tiefgreifend ist, dass es das Universum verändern kann: Feuer, Elektrizität, Kernspaltung. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfanden wir das Titan-Programm …“.
Diese Einleitung nimmt EdS zum Anlass, eine Art … ja, man muss es schon so nennen, Glaubensbekenntnis abzulegen. Er ist der festen Überzeugung, dass sich ein neuer, wie er es nennt, „postreligiöser Dschihad“ anbahnt, dessen Wurzeln im Westen liegen, in dessen Desillusioniertheit und dessen umweltverschmutzendem Verhalten. Da kommt selbstredend mein Philosophiestudium, das lange zurückliegende, zum Tragen – ich lese hier „Nihilismus“, zumindest in Anlehnung, höre hier EdS einen Paradigmenwechsel ansprechen. Rückbesinnung auf „die Natur“ als „heiligen Mittelpunkt“ – damit ist sicherlich in Zeiten von Greta Thunberg und Co., Stichwort: Klimawandel, Raubtierkapitalismus et cetera, ein Wertewandel gemeint, die Einsicht, dass es „so“ nicht mehr (lange) weitergehen kann. EdS beschwört eine radikale Abkehr herauf, eine gedankliche, die Verabschiedung von alten „Werten“ im Tausch gegen … noch ältere – die Überzeugungen primitiver Stämme und Ureinwohner, was mich umgehend beispielsweise an die Bishnoi denken lässt. Kennt Ihr nicht? Lohnt sich, einmal kurz zu googeln – die Bishnoi sind eine indische Religionsgemeinschaft, vorwiegend angesiedelt in Rajasthan. Es gibt sie seit circa 500 Jahren, ihr Name bedeutet 29, was sich auf die (An)Zahl der Gebote bezieht, nach denen sie leben. Zu denen gehören unter anderem, man höre und staune: eine großmütige und achtungsvolle Beziehung zwischen Mann und Frau, das Verbot des Tötens jeglicher Lebewesen, Vegetarismus, das Verbot des Fällens von Bäumen. Liest sich wie das Pamphlet eines Veganers und erstaunlich progressiv weil nachhaltig? Yep.
Zurück zu EdS – wie von Etat Libre d’Orange nicht anders zu erwarten (und das meine ich im absolut positiven Sinne) kommt sein neuester Duft hinsichtlich dessen Hintergrund erneut einem halben Manifest gleich: I am Trash soll eine Botschaft verkünden, und zwar diejenige, dass sich im Schmutz Schönheit, das Schöne widerspiegeln soll, muss. Diesbezüglich zitiert er Arthur Rimbaud (wofür er einen weiteren Stein in meinem imaginären Brett verdient), und zwar dessen Gedicht Le Bateau ivre, Das trunkene Schiff. Ich zitiere Euch hier die Paul Celan-Übersetzung des Gedichts sowie das französische Original, einzusehen bei Suhrkamp:
„Plus douce qu’aux enfants la chair des pommes sures, L’eau verte pénétra ma coque de sapin Et des taches de vins bleus et des vomissures Me lava, dispersant gouvernail et grappin. Et dès lors, je me suis baigné dans le Poème De la Mer, infusé d’astres, et lactescent, Dévorant les azurs verts; où, flottaison blême Et ravie, un noyé pensif parfois descend;
So süß kann Kindermündern kein grüner Apfel schmecken, wie mir das Wasser schmeckte, das grün durchs Holz mir drang. Rein wuschs mich vom Gespeie und von den Blauweinflecken, fort schleudert es das Steuer, der Draggen barst und sank. Des Meers Gedicht! Jetzt konnt ich mich frei darin ergehen, Grünhimmel trank ich, Sterne, taucht ein in milchigen Strahl und konnt die Wasserleichen zur Tiefe gehen sehen: ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl.“
Worum geht es? Kurz und knapp zusammengefasst – um das Meer, das wilde, ungezähmte als Metapher für das Leben, in das „man“ sich hineinwirft, in diesem Falle der Dichter selbst, Rimbaud. Rimbaud, der nur 37 Jahre alt wurde. Er, der als einer der bedeutendsten französischen Lyriker gilt. Er, bei dem Leben und Werk so sehr miteinander verschmelzen, das man sie fast als Gesamtkunstwerk betrachten kann.
EdS gibt seinem neuesten Duft I am Trash den Beinamen Les Fleurs du Déchet, die Blumen des Abfalls – bestimmt auch ein kleiner Fingerzeig in Richtung des Hauptwerks von Charles Baudelaires, den Blumen des Bösen, Les Fleurs du Mal. Und bezeichnet ihn als Durchgang, als Weg hin zum Erwachsenwerden, Erwachsensein von Sécrétions Magnifiques, eine „Konterrevolution“ der Marke Etat Libre d’Orange, die immer noch laut und (ver)störend ist, aber überaus funktional. In Zusammenarbeit mit Givaudan und Ogilvy (einer weltweit bekannten Werbe- und Kommunikationsagentur) hat man ein Unternehmen im Dienste von „Mutter Natur“ gegründet, um dieser, wie EdS blumig ausdrückt, ein Blütenbouquet der Vergebung anzubieten und jedermann laut und schnell wissen zu lassen, dass es bald zu spät sein wird – für eine Umkehr, einen Sinneswandel, nehme ich an.
EdS beendet seine Artikelbeschreibung von I am Trash, sein Manifest mit einer Art offenem Brief: Liebe Welt, wirf nichts weg, denn auf dem Grund unseres Mülls, unserer Abfälle, wartet die fermentierte Destillation großer Liebe. In den Müllwagen liegen Blumen, die noch bluten können, Schalen und Rinden, die noch zu geben bereit sind. Die schädlichen Ausströmungen enthalten Noten von Honig, die mit der Erde verschmelzen können. Und es gibt so viele schwimmende Reste, der Müll, der ins Meer geworfen wurde sowie unsere Abfälle, die Ambra (als Ausscheidung von Walen), mystische Symbole, die Überzeugungen primitiver Stämme – all das muss neu aufbereitet werden, neu gedacht werden, neu erfunden. Um Alan Patou wiederzugeben und ein Stück weit zu verfälschen: Weine, mein geliebter Planet, um das ungeborene Kind: lass es die Erde nicht zu sehr lieben, denn sie entgleitet uns. Bevor es also zu spät ist, lasset uns zum God der Verschwendung beten, unserem lieben Herrn der Überreste.
Hier baut EdS ein nettes Wortspiel ein – „(s)pray to the god of waste“ – pray heißt beten, spray heißt sprühen, er bezieht sich also auf seine neueste Duftkreation und beendet seine Aufforderung mit einem „End of sermon“, Ende der Predigt, bezeichnet I am Trash darüber hinaus als „messianischen Duft“.
Wow, viel Text. Viel Inhalt. Und selbtredend ein schaurig-schöner Videoclip von Ogilvy Paris zum Parfum, bitteschön:
Und was ist jetzt mit dem Duft I am Trash? Der soll eine ganze Menge Re- beziehungsweise Upgecyceltes enthalten – „Apple Essence Upcycling, Rose Absolute Upcycling, Cedarwood Atlas Upcycling, Bitter Orange, Gariguette Strawberry…“, Apfel, Rose, Zedernholz, darüber hinaus Bitterorange und Gariguette-Erdbeeren, eine in Frankreich sehr beliebte Gourmeterdbeere. Im Auftakt duftet es tatsächlich ein wenig nach Beet, Kompost und Marktstand mit frischem Obst. Während ich mich noch anstrenge, um die Früchtchen zu sortieren, genauer zu fokussieren, drängen sich schon zwei davon in den Vordergrund – Granny Smith-Äpfel in leuchtendem, strahlendem Grasgrün, an deren Seite sich reife, saftig-süße Erdbeeren befinden.
I am Trash feiert keineswegs „Müll“, präsentiert uns keine überreifen oder verdorbenen Früchtchen, sondern ist ein Re- beziehungsweise Upcycling-Duft. Im weiteren Verlauf kommt eine schöne, junge, fruchtige Rose hinzu, die frische Fruchtigkeit des Duftes untermalend. Denn die macht I am Trash aus, der mitnichten ein papsig-süßer, gourmandiger Fruchtduft ist, ganz im Gegenteil – er zeigt sich wohltuend zurückhaltend diesbezüglich, hat mitunter fast eine leise Herbheit und erinnert mich deshalb an eines meiner allerliebsten Früchtchen, an Byredos Pulp. Schön und unaufdringlich, genau deswegen auch bemerkenswert – es gibt wenige fruchtige Düfte, die derart erfrischend sind ohne „over the top“ fruchtig zu sein, nicht süß und gleichzeitig auch nicht sauer-sauer. Passt alles, sehr fein gemacht – und für mich eine Überlegung wert hinsichtlich des hoffentlich bald anstehenden Sommers!
In diesem Sinne – ein schönes Wochenende Euch und uns allen vielleicht sogar ein bisschen Sonne!
Liebe Grüße
Eure Ulrike
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