Atelier Obliques Bohemian Woods …

… wollte ich schon sehr lange rezensiert haben – und doch ist er mir irgendwie vom persönlichen Radar entfleucht. Das änderte sich dieser Tage schlagartig, als uns zwei neue Düfte der Marke aus der Hauptstadt ins Haus trudelten, Voodoo Flowers und Beton Brut.

Regelmäßige Leser*innen werden sich vielleicht noch an meine Rezensionen zu dem ersten Duftquartett der Marke des Wahlberliners Mario Lombardo erinnern – es ist allerdings schon ein Weilchen her. 2018 im April hatte ich sie rezensiert, die damals brandneue Kollektion, nicht ohne selbstredend auf den Hintergrund von Lombardo einzugehen, der einigen aus einem anderen Kontext, anderen Kontexten bekannt sein dürfte, gilt er doch als einer der bedeutendsten Graphik- und Kommunikationsdesigner unserer Tage. Als „Wanderer zwischen den Welten“ habe ich Lombardo damals bezeichnet wegen seines interdisziplinären Ansatzes, Werkens und Wirkens, angesiedelt in den Feldern von Design, Architektur, Kunst, Kultur, Mode und Musik. Und eben Düfte, wie soeben erwähnt seit 2018. Es scheint Lombardo Spaß zu machen, er scheint Blut oder vielmehr Parfumöl geleckt zu haben, wie man so hübsch zu sagen pflegt – ein Umstand, den vermutlich alle von uns Parfumistas kennen werden und dem einen oder der anderen an dieser Stelle ein Schmunzeln entlocken wird.

Für diejenigen, die seine Düfte noch nicht kennen oder nochmals stöbern wollen, hier die bisherigen Rezensionen:

Bohemian Woods stammt ebenfalls aus dem Jahr 2018, die beiden Neulinge, die wir uns demnächst zusammen ansehen, sind aktuell lanciert worden, ergo aus 2020. Aber bleiben wir erst einmal bei Bohemian Woods für heute, ich bin gespannt!

Seinen Weg gehen – Bohemian Woods

Mario Lombardo über das Parfum – Meine Familie ist eine Art buntes Patchwork und von überall her gibt es Einflüsse. Italien, Spanien, Schweiz, slawische, deutsche, gar indigene Wurzeln kann man finden. Nimmt man allein meine Herkunft väterlicherseits, sieht man den weiten Weg den wir gemacht haben, um im Hier und Jetzt anzukommen. Einst aus der Lombardei ins südliche Italien ausgewandert, entschloss sich mein Urgroßvater, Giovanni Lombardo, mit jungen 22 Jahren die Trockenheit Siziliens zu verlassen und sein Glück in Argentinien zu suchen. Ein Land, das in dieser Zeit viele Möglichkeiten als auch Unmöglichkeiten versprach. Im Jahr 1900 kaufte er von seinem Ersparten ein Ticket und reiste mit vielen Gleichgesinnten auf einem Dampfer der Hoffnung entgegen. Ziel Buenos Aires, wo er einige Jahre blieb. Hier wurde auch mein Großvater, Geronimo, geboren. Ende der 20er Jahre, nach der Weltwirtschaftskrise, zogen sie gemeinsam auf dem gewaltigen, roten Fluss Paraná Richtung Norden tiefer ins Land.

Ein weiteres One-Way-Ticket nach Rosario, eine damals sehr junge Stadt. Heute ist sie mit ihren 1,2 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Argentiniens. Dort wurden sowohl mein Vater als auch ich geboren. Dieser Zeitabschnitt von ca. 40 Jahren ist wohl der längste in unserer Geschichte, der sich an einem Ort abspielt. Doch auch dort sollte die Reise nicht enden. Die Militärjunta der 70er bis Anfang 80er Jahre, unter Jorge Rafael Videla, bei der um die 30.000 Menschen ums Leben kamen und Zahllose gefoltert wurden, zwang uns nach Deutschland zu emigrieren und dort unser Glück zu suchen. Dies bedeutete den vierten Neustart in wenigen Jahren und das ist nur die Geschichte meines väterlichen Stranges. Meine Mutter vereint spanisch-indigene Wurzeln. Ich meine auch asiatische Einflüsse zu sehen, bin dieser Vermutung aber nie auf den Grund gegangen. Auf beiden Seiten wurden also viele Reisen und Entscheidungen ins Ungewisse getroffen, die gebündelt in mein Jetzt führen. Ein Komplex aus Hoffnung, Verlust, Mut, Sehnsucht. Ein Erbe, das ich in mir trage und mich prägt. ‚Unsere Verwurzelungen sind im Herzen, nicht im Boden‘ pflegte meine Mutter mir zu sagen. Wir reisen und wandern von Abschnitt zu Abschnitt, von Ort zu Ort und oft ins Ungewisse, doch immer mit unserem Wissen, Glauben und unserer Geschichte im Gepäck. Das ist etwas, was ich in meiner kreativen Arbeit seit Anbeginn beherzigt habe und so keinen Neustart gescheut habe. Nach dem Motto, wo kein Weg mehr ist, ist des Weges Beginn. Diesem Credo habe ich dieses Eau de Parfum gewidmet. Eine schillernde und zugleich dunkle Komposition. Dunkel, wie eine tiefe, mondlose Nacht trägt dieses Eau de Parfum gleichzeitig die helle Laterne der Hoffnung.“

Die Ingredienzen:
Kopfnote: Absinth, Elemiharz, Rosa Pfeffer, Freesie
Herznote: Safran, Weihrauch, Iris, Patchouli
Basisnote: Hölzer, Moschus, Leder, Vanille

Vielleicht passt Bohemian Woods aber auch genau jetzt in diese Zeit, liest man sich die sehr persönliche Beschreibung Lombardos hinsichtlich seiner Inspirationen zu dem Duft durch. Die grassierende Covid-19-Pandemie hat viele von uns ebenfalls „entwurzelt“, wenngleich auf eine andere, sehr viel abstraktere Art als die von Lombardo beschriebene. (Planungs)Sicherheit war gestern. Vielen von uns, ich denke, ich kann das so verallgemeinern, wird dieser Tage, Wochen und Monate bewusst – mitunter auf mehr oder weniger beängstigende oder auch schmerzliche Weise -, dass wir sehr viel weniger Kontrolle über unser Leben haben, als uns lieb ist. Dass unser Einfluss beschränkt ist, dass wir mit Engagement und Einsatz einiges, aber nicht alles erreichen können. Das hinterlässt einen in manchen Augenblicken hilflos, vielleicht gar mit einem Anflug von Ohnmacht zurück. Die Welt dreht sich derzeit verdammt schnell – (annähernd) egal, ob wir als Einzelne mit beiden Händen ins Steuerrad packen oder auch nicht.

Unser aller „Reise“, die durch Covid-19 ausgelöste und gepushte, ist insofern bis zu einem gewissen Grad vergleichbar mit dem, was Lombardo schreibt – ins Ungewisse führt sie uns derzeit, es bedarf der Entscheidungen Einzelner als auch der breiten „Masse“, der Gesellschaft, die in Folge zu Handlungen (und auch Unterlassungen) führen, welche wiederum unser „Schicksal“, ganz unesoterisch gemeint im Sinne von: nächste und mittelfristige Zukunft, entscheidend prägen werden.

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Ich mag Lombardos Sätze dazu sehr. Das Zitat seiner Mutter, dass „Verwurzelungen im Herzen“ sind und eben nicht den, wörtlich und im übertragenen Sinne, Boden unter den Füßen meinen. Seine Ausführungen, dass wir „von Abschnitt zu Abschnitt“ im Leben wandern und reisen, „oft ins Ungewisse“, jedoch nicht mit gänzlich leeren Händen, nicht ohne Gepäck – denn wir nehmen uns selbst mit, das, was uns ausmacht, bisher ausgemacht hat. Unser, wie Lombardo schreibt, Wissen, unseren Glauben, unsere ureigene Geschichte, unsere Erfahrungen.

Ohne selbst gläubig zu sein, denke ich in diesem Moment an den Psalm 23, den sogenannten Hirtenpsalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Für die Atheisten und Agnostiker unter uns, zu denen ich mich zähle, lässt sich der Gottesglaube samt daraus resultierender Zuversicht sicherlich als Platzhalter sehen: für die Kraft, die in einem selbst steckt beispielsweise. Futur Antérieur, „Ich bin der, der ich gewesen sein werde“: Krisen lassen einen wachsen, oft auch gerade über sich selbst hinaus. Und somit reifen, die eigene Persönlichkeit. Sie fordern einen heraus und fördern somit im besten Fall Resilienz. Sicherlich, möchte man nicht in jeder Krise hören geschweige denn jede Krise haben, dennoch – zumeist kann man es sich nicht heraussuchen. Es bleibt also nur die Konfrontation und der Versuch, die Krise als Herausforderung aufzufassen und zu meistern.

[Exkurs: Das einzige Ratgeberbüchlein zwecks Eigenoptimierung, das ich wirklich liebe – Anleitung zum Unglücklichsein von Paul Watzlawick. Falls Ihr es noch nicht kennt – absolute Kaufempfehlung. Passt immer, dieser Tage erst recht. Bei Wiki findet sich eine nette Übersicht, seht hier.]

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„Keinen Neustart gescheut“ hat Lombardo nach eigener Aussage, und zwar getreu des Mottos „Wo kein Weg mehr ist, ist des Weges Beginn.“  Schaff Dir selbst einen Weg, wo keiner (mehr) ist. Abgetretene Pfade beschreiten kann jeder. Kann man machen, muss man nicht – wenn es einen Weg gibt. Wenn keiner vorhanden ist – geh voran, vertrauensvoll. Im Vertrauen auf Dich selbst.

Vielleicht hilft Bohemian Woods dabei? Gemäß Lombardo eine „schillernde und zugleich dunkle Komposition“, die sich „dunkel, wie eine tiefe, mondlose Nacht“ zeigt, aber gleichwohl eine „helle Laterne der Hoffnung“ darstellt. Dann illuminieren Sie uns doch bitte den (vorhandenen oder erst zu schaffenden) Weg, Herr Lombardo! … schrieb sie, zückte die Probe und entließ das verlockende Tröpfchen doch direkt auf die Haut …

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Sturztrunken macht er mich nicht, der Wald, will sagen: kein Absinth auf meiner Haut. Dafür ordentlich Pfeffer, samtig-dumpfe, matt-strahlende Düsternis, kühl und warm, wärmend zugleich. Balsamische Samtigkeit, würzig-pudrig und mächtig hölzern, von einer Prise Pfeffer kokett akzentuiert. Ein winziges Quentchen charakteristischen Safrans, Anklänge von elegantem, dunklem Glattleder, ordentlich kakaopudrig anmutender Patschuli, dessen Erdigkeit von ebenfalls pudriger Iris bestärkt wird. Nebelschwaden von Harzen, vornehmlich Weihrauch, kühl, majestästisch auf eine Weise.

Das alles hört sich kantiger an, als es ist, denn Bohemian Woods ist zugleich auf eine Art streichelzart, ein Seelenschmeichler und Wohlfühlduft (geschlechtsunabhängig, versteht sich, er passt wirklich für und zu jedem meiner Meinung nach). Woran liegt es? Vornehmlich, meine Lieben, an dem Dreamteam aus Elemiharz und Vanille, das gar verlockend und köstlich ist, wie immer. Wobei, „immer“ ist hier übertrieben, es gibt gar nicht mal soo viele Düfte, in denen man es findet, obschon dieser cremig-süße, sachte, vanillegeküsste Harzrauch gehörig den Kopf verdrehen kann – darin ist Bohemian Woods ebenfalls äußerst fleißig und gut, meine Lieben!

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Was soll ich sagen? Mir gefällt der kontemporär-stylishe Schönling überaus gut. Eine olfaktorische Trutzburg, ein Seelenschmeichler, der darüber hinaus durchaus eine sinnlich-erotische Komponente besitzt. Und wem könnte er so gefallen außer mir? Mmmhh, … anfänglich hat er für einen kurzen Augenblick Anklänge von Le Labos Patchouli 24, jenem vanillegeküssten Räucherschinken, wobei hier weniger Schinken und mehr Rauch vorhanden ist, der sich allerdings lichtet. Dennoch, als weiter entfernter Seelenverwandter kann er wohl durchgehen, unser Bohemian Woods. Da sind wir dann bei Annick Menardo und ich denke an deren weitere Kreationen: an ihre Ikonen und Klassiker Hypnotic Poison für Dior und BVLGARI Black. Ersterer hat jene unnachahmliche samtig-prickelnd-dynamische Pudrigkeit, die in Ansätzen auch Bohemian Woods innewohnt. Fans von dem Schwarzen sollten sich Bohemian Woods ebenfalls einmal ansehen, auch wenn dieser keinerlei Latex-Gummi-Noten enthält (dafür jenes Quentchen Leder).Auch Liebhaber von Une Nuit à Montauk Memory Motel von Une Nuit Nomade können sich ganz bestimmt mit Bohemian Woods anfreunden. Ja, doch, je länger ich darüber nachdenke – eingeschworene Parfumistas, die Menardos Handschrift, diese ganz typische, gerne mögen, werden Bohemian Woods ebenfalls zu schätzen wissen, da bin ich mir sicher.

Ein schönes Wochenende und alles Liebe –

Eure Ulrike

P. S.: … weil es kühler wird, wir in absehbarer Zukunft vermutlich alle mehr Zeit zu Hause verbringen werden, für den einen oder die andere dazu auch Filmgenuss gehört – falls Ihr dieses schon etwas ältere, aber immer noch sehr sehenswerte Meisterwerk noch nicht kennen solltet – anschauen! Beasts of the Southern Wild (2012) von Benh Zeitlin (damals gerade mal 30 Jahre alt), ein Erstling, mehrfach preisgekrönt. Fragt mich jetzt, wie ich darauf komme – ich kann es nur in Ansätzen erklären und auch nicht rational 😉

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Ulrike Knöll Verfasst von:

Meine Liebe gilt seit jeher dem Ästhetischen: Mir geht das Herz auf bei jeglichen Dingen, die durch Form, Funktionalität, Design und Herzblut zu überzeugen wissen. Und wenn dann noch ein Quäntchen Historie dazu kommt, ist es meist ganz um mich geschehen … Ich bin der Nischenparfümerie mit Haut und Haaren verfallen und immer auf der Suche nach dem – oder vielmehr: einem – neuen heiligen Gral. Diese Suche sowie mein ganzes Interesse und meine Begeisterung möchte ich gerne mit Euch teilen!

2 Kommentare

  1. Kathrin
    31. Oktober 2020
    Antworten

    Hey Uli,
    aus Zeitgründen habe ich schon laang keinen Artikel mehr von dir, bzw. hier gelesen. Jetzt war es endlich mal wieder so weit, danke für die sehr gut geschriebene Nacht-/Frühmorgen-Lektüre! Lustigerweise war ich ganz unabhängig vom Baby noch wach, der hat geschlafen 🙂
    Liebe Grüße,
    Kathrin

  2. Ulrike Knöll
    7. Januar 2021
    Antworten

    Huhuu liebe Kathrin,

    das freut mich sehr, von Dir zu lesen!
    … auch, dass das Baby nachts schläft, das ist ja immerhin schon mal was bzw. viel 😉
    Ich hoffe, es geht Dir/Euch gut und wünsche nachträglich noch ein gutes neues Jahr!

    Herzlichst

    Deine Uli

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