… ist der zweite Duft der Franzosen, den ich mir stellvertretend für Euch zu Gemüte und letztendlich zur Nase führe. Letzte Woche hatte ich bereits ausführlich hier im Blog über die Hintergründe der Duftkollektion geschrieben, die zu dem heutigen 5 Sterne-Boutique-Hotel Les Bains gehört. Dieses wiederum ist beheimatet in einem historischen Haus in der Rue du Bourg-l’Abbé 7, die schon immer eine Art „place to be“ war. 1885 beherbergte es ein Thermalbad, ein Badehaus, ab Ende der Siebzigerjahre dann das Les Bains Douches, einen legendären Nachtclub von Weltruhm und seitdem 2016 die Pforten wieder geöffnet wurden 2016 besagtes Hotel.
Die 135jährige Geschichte des legendären Ortes olfaktorisch nachzuerzählen und somit das Erbe desselben zu huldigen und wieder aufleben zu lassen ist das Motiv der Duftkollektion, die uns noch ein paar Tage beschäftigen wird. Da alle Düfte eine Jahreszahl im Namen tragen, gehe ich selbstredend chronologisch vor. 1885 Bains Sulfureux machte den Anfang, klick, heute geht es mit 1900 L’Heure de Proust weiter.
Die Proustsche Stunde – 1900 L’Heure de Proust
„Paris at the Belle Epoque. A remembrance of Proust at the Bains Guerbois with a cherished confidante. After a steam bath and massage, time slows and tea is served. Black blueberry and pomelo tea. The moment for secrets divulged, whispered close. The odor of Tuscan leather, scent of violet, mate and vanilla. Which of them smells so divine? Is it him or her? Intertwined perfumes. Fragrance lost, fragrance regained.“
Die Ingredienzen:
Kopfnote: Bergamotte, Heidelbeere, Grapefruit
Herznote: Veilchen, Schwarztee, Leder
Basisnote: Mate, Guajakholz, Gourmand-Noten, Vanille, Ambra, Süßholz (Lakritze)
Parfumeur: Jérôme Epinette
1900 L’Heure de Proust, die Stunde von Proust. Gemeint ist hier nicht Antonin Proust, der Journalist, Autor und Politiker war und ebenfalls die Kreise der Guerbois-Familie tangiert haben dürfte. Das Badehaus Les Bain Guerbois wurde, wie ich bereits schrieb, von Vater und Sohn gegründet, wobei der Sohnemann durch sein vorheriges Geschäft beste Kontakte in die damalige Künstler- und Intellektuellenszene hatte, die später auch das Thermalbad mit ihrem Besuch beehrten. Das Café Guerbois war jahrelang Treffpunkt eben jener Szene, unter anderem vor allem der Impressionisten – eben dort fand sich wohl auch in schöner Regelmäßigkeit besagter Antonin Proust ein. Dieser war zur damaligen Zeit nicht die einzige bekannte Persönlichkeit mit diesem Nachnamen, so zollt 1900 L’Heure de Proust dem doch ein wenig bekannteren Träger desselben Tribut, wie vermutlich der eine oder die andere schon am hübschen Bild zum Duft erkannt haben dürfte.
Die Rede ist natürlich von Marcel Proust, dem Schriftsteller, dessen siebenbändiges, monumentales Hauptwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als einer der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts gilt in der Geschichte der Weltliteratur. Wer hat ihn komplett gelesen? Ich muss gestehen, dass ich leider vor einigen Jahren irgendwo bei der Hälfte eingeknickt bin, den Rest (oder vielmehr: nochmal alles von vorne) aber sehr weit oben auf meiner Leseliste stehen habe.
Bezüglich seines Privatlebens hatte Proust zwar einige Beziehungen zu und mit Frauen, war aber bekennender Homosexueller. Einige seiner hinterlassenen Briefe an frühere Mitschüler offenbaren einen – vor allem auch für die damalige Zeit – ziemlich offenen Umgang mit seiner sexuellen Orientierung, zumal er daraus offensichtlich keinen Hehl machte. Sein Umfeld schien das ebenfalls zu akzeptieren, zumal er wohl einige Freunde auch recht leidenschaftlich anschmachtete, unter anderem eben auch auf schriftliche Weise, was diese Freundschaften wohl nie wesentlich getrübt hat. Im Zusammenhang mit unserem heutigen Duft spielt das insofern eine Rolle, weil das Les Bains Guerbois damals nicht nur bei Künstlern, Intellektuellen und „Schickeria“ beliebt war, sondern auch als Treffpunkt der Pariser Schwulenszene bekannt war (die, man denkt es sich schon, große Überschneidungen mit den vorherigen Gruppen besaß). Proust war offenbar mit von der Partie.
Duftliebhabern ist Proust, selbst wenn sie ihn nicht (komplett) gelesen haben, meistens ein Begriff, und zwar wegen einer immer und immer wieder zitierten Stelle aus seinem Hauptwerk, die ich Euch an dieser Stelle auszugsweise nochmals präsentieren möchte, die Madeleine-Episode seines Protagonisten Swann, hier offen zugänglich nachzulesen im Netz:
„Sie [die Mutter des Protagonisten] ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man ‚Madeleine‘ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und dieAussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? […] Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. […] Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? […] Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. […] Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzig möglichen Dragoman erbitten, daß sie mir die Aussage ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks übersetzt, sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag. Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mirzu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? […] Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen.Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte. […] Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.“
Tjaja, Düfte und Erinnerungen – der Zusammenhang ist mittlerweile neurobiologisch erklärt durch die Art und Weise unserer Sinneswahrnehmungen, wie ich schon häufig geschrieben habe. Die Olfaktorik unterscheidet sich nämlich insofern von allen anderen Sinneswahrnehmungen, dass sie nicht, wie der Rest, zuallererst im Thalamus ankommt, wo sie selektiert werden könnte, sondern ungehindert sofort in der Amygdala landet, die unter anderem für Emotionen und deren Verarbeitung zuständig ist.
Prousts perfekte plastische Schilderung jenes einzigartigen Phänomens des Geruchs(- und in diesem Falle auch Geschmacks)sinns, der auf solch mächtige Weise Erinnerungen heraufbeschwören und lebendig ausleuchten kann, als sei das Geschehen erst gerade eben passiert, ist deshalb auch in die Psychologie eingegangen als Madeleine-Effekt beziehungsweise Proust-Effekt oder auch Proust-Phänomen.
Eben jenes Madeleine genannte Süßgebäck findet sich auf der Fotografie zu 1900 L’Heure de Proust, dessen Duftbeschreibung mit dem Madeleine-Effekt spielt: Nach einem heißen Dampfbad wird Tee serviert, vielleicht auch eine Kleinigkeit zu Essen. Die Entspannung fördert Gespräche, Geheimnisse werden flüsternd ausgetauscht. Es duftet nach (Mate)Tee, nach Veilchen und Vanille, darüber hinaus nach kostbarem, toskanischem Leder, was eine Art Herrenzimmer vor meinem inneren Auge evoziert mit mächtigen Sitzgelegenheiten aus eben jenem Material … Wer oder was duftet so himmlich, er oder sie, wo ist der Ursprung dieses traumhaften Duftes, der so plötzlich, wie er existierte, auch wieder verschwand?
Epinette, der diese Szene, diese Szenerie umsetzen durfte, ist wie alle anderen Parfumeure, die für Les Bain Guerbois 1885 am Werk waren, kein Unbekannter, ganz im Gegenteil: der seit 2003 für den Aromenstoffhersteller Robertet arbeitende Parfumeur ist „die Nase“ hinter etlichen, um nicht zu sagen einem Großteil der Düfte von Byredo, Decennial und Vilhelm Parfumerie, darüber hinaus, vermutlich dank Byredo, auch für diverse Kreationen aus der & Other Stories-Duftkollektion verantwortlich (gehört zu H&M) sowie für ein paar Zara-Düfte. Des Weiteren schuf er Parfums für Atelier Cologne (unter anderem Bergamote Soleil, Blanche Immortelle, Bois Blonds, Camélia Intrépide, Cèdre Atlas usw.), Fresh Cannabis Rose, Jovoy (einige der vergriffenen Les 7 Parfums Capitaux), Les Sœurs de Noé (z. B. Amazing Jade, Jardin de Macarons, Mitsio Vanille), Olfactive Studio Flashback in New York, Room 1015 Hollyrose, … ich glaube, ich kann jetzt aufhören, oder? 😉
Und wie hat Monsieur Epinette nun das Thermalbad umgesetzt, diesen Augenblick nach dem Dampfbad, den oben beschriebenen, der sinnierend wirkt und voller Reflexion?
Besonders, sehr besonders. Leuchtend, ich bin ganz entzückt. Und entdecke durchaus Ähnlichkeiten, die Handschrift von Epinette ist eben sehr speziell, will sagen: oftmals sehr deutlich zu erkennen, siehe vor allem Byredo und Vilhelm Parfumerie sowie ferner natürlich auch Atelier Cologne. Die Düfte, die ich für einigermaßen „typisch“ halte, haben alle eine gewisse Strahlkraft, sie wirken hypermodern, weswegen sie mitunter Geschmackssache sein können. Können, weil sie eben doch, das zeigen die Verkaufszahlen der beiden doch sehr erfolgreichen Marken, viele für sich einzunehmen vermögen. Epinette könnte in guter oder auch Bestform durchaus ein Verkaufsgarant sein, denke ich, insofern wird auch unser Proust-Duft hier sicherlich einer derjenigen Düfte der Kollektion von Les Bains Guerbois 1885 sein, der ganz bestimmt nicht zum Ladenhüter wird.
Mich erinnert 1900 L’Heure de Proust vor allem an einen ganz frühen Byredo-Duft, an Pulp, der eine ähnliche Knalligkeit besitzt mit seinen auf eine Art extremen, frisch-säuerlichen Fruchtnoten in Kombination mit Gourmandanklängen, allerdings zeigt er sich zahmer, distinguierter, nicht so sehr auf Kante gebürstet, was mir wiederum die Grapefruit-Pomelo-Düfte von Atelier Cologne in Erinnerung ruft. Auswendig weiß ich es nicht, ob sie von Epinette sind, macht aber nichts – wer diese mag, sollte hier in jedem Fall testen.
Ok, stellt Euch also vor: jene pulpsche Knalligkeit, mit Abstrichen, die ich einmal mit der Kunst von David LaChapelle verglichen habe, fette Fruchtnoten gepaart mit köstlichen Pralinés und ja, tatsächlich: Madeleines, einer gourmandigen Wärme, süß, aber nicht pudrig, im Zaum gehalten von leisen Anklängen samtigen Wildleders und gehüllt in sachte rauchigen Matetee. Und dann bitte noch die Klarheit, die strahlende, von einem der besagten Atelier Cologne-Düfte, am besten von Pomélo Paradis, der allerdings mangels Gourmand- sowie Ledernoten definitiv „frischer“ erscheint – et voilà, heraus kommt der herrliche 1900 L’Heure de Proust, der ein, im absolut positiven Sinne „Hans Dampf in allen Gassen“ ist, ein Duft, der Genres oder vielmehr Gattungen, Duftfamilien verschiedenster Art anspielt und unter einen Hut bekommt, die man selbst nicht unbedingt als miteinander kombinierbar empfunden hätte. Hätte, wohlgemerkt.
Ein meines Erachtens nach typischer Epinette, der modern ist und sehr charakteristisch, aber dennoch tragbar. Und der eigentlich jedem steht, darüber hinaus auch annähernd ganzjährig zu verwenden ist.
Läuft bisher für Les Bains 1885, würde ich sagen – zwei Düfte, beide deutlich überdurchschnittlich um nicht zu sagen: Volltreffer. Könnte so weitergehen, finde ich. Ob es das tut erfahren wir morgen und die darauffolgenden Tage 🙂
Viele liebe Grüße
Eure Ulrike
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