… einmal mehr ins Schwarze mit ihrem neuesten duftenden Streich oder vielmehr mit dessen Sujet: der Anomalie. Der eine oder die andere mag es bereits ahnen … der heutige Artikel könnte etwas länger werden 😉
Anomalie, die – Definition des Begriffes
Was heißt Anomalie denn eigentlich? Etat Libre d’Orange geben eine Kurzbeschreibung, die sich absolut einleuchtend liest und das trifft, was wir im Sprachgebrauch unter Anomalie verstehen:
„ANOMALIE [anomaˈliː] – Eine Person oder ein Gegenstand, der nicht dem Gewöhnlichen entspricht.“
Entspricht das der Etymologie des Begriffes? Wollen wir doch mal nachsehen … Der Begriff der Anomalie ist dem Lateinischen entlehnt und bezieht sich auf die spätlateinischen Worte anōmalos, anōmalus, die wiederum auf den griechischen Begriff anṓmalos (ἀνώμαλός) zurückgehen. Das ist insofern relevant, weil anṓmalos zuallererst einmal als Negation von homalós (ὁμαλός) zu sehen ist – uneben, ungleichmäßig versus gleich(mäßig), eben, glatt. Sprachlich sind demgemäß alle genannten Begriffe nicht verwandt mit dem altgriechischen Wörtchen nómos, Sitte, Gesetz, Brauch, oder den lateinischen Wörtern norma, Regel, Richtschnur, sowie abnormis, von der Regel abweichend. In der deutschen Sprache haben sich früh die daraus resultierenden Begriffe anomal und abnorm vermischt, es entstanden daraus die Mischwörter anomal und abnormal. Schon klar, welcher Fehler sich hier eingeschlichen hat: das Nicht-Ebenmäßige wird zu dem, das den Regeln zuwiderläuft, mitunter zu etwas Unnatürlichem – und das lediglich aus dem Grund, weil Sprache nicht trennscharf verwendet wird. Oder, weil es gewollt ist.
Wie formulierte es neulich eine sehr sympathische Frau, die ich im Rahmen eines Besuchs bei Freunden kennenlernte? Wer den Kopf aus der Menge herausstreckt, läuft Gefahr, diesen abgehauen zu bekommen. Vielleicht war ihre Formulierung nicht so drastisch, aber letztendlich lief sie genau darauf hinaus. Ich schreibe selten hier im Blog über Politik oder besser politikgeprägten Zeitgeist, weil … Goethe, „ein politisch Lied, ein garstig Lied“. Das Dufttagebuch soll eine Insel sein im Alltag, eine schöne, feingeistige, erholsame. Dennoch – She is an Anomaly erinnert mich mit seinem Sujet selbstredend sofort an den momentan nicht nur in Deutschland vorherrschenden Zeitgeist, der meines Erachtens nach immer toxischer wird, weil einige Menschen da draußen offensichtlich eine pluralistische Gesellschaft ablehnen und die für sich beanspruchte und angenommene „Norm“ im Sinne von „Normalsein“ (was bitte ist das denn …) als allgemein verbindlich manifestieren und durchboxen wollen, wenn es Not tut auch gerne mit Gewalt … Ihr wisst, was ich meine.
In Zeiten wie diesen gefällt mir alles, was dagegenläuft. Ich feiere alles und jeden, der für sich in Anspruch nimmt, etwas zu tun, was eben nicht den vermeintlichen Erwartungen anderer entspricht und/oder dem Mainstream folgt. Das entspricht auch meinem Naturell – Harmen hat es vor einigen Jahren einmal hier in einem Blogartikel zu meinem Geburtstag erwähnt: „Uli hatte schon immer ein Herz für Underdogs“ oder so ähnlich ließ er in einem Halbsatz verlauten. Damit wären wir bei einem der Haupgründe, weswegen ich Etat Libre d’Orange schon seit ihrem Markteintritt schätze.
Wer die Franzosen noch nicht kennt, dem sei eine kleine Markenbeschreibung vorangestellt, die ich bereits für einen früheren Artikel verfasst habe:
Etat Libre d’Orange – die olfaktorischen Revoluzzer
Hinter der Marke steht Etienne de Swardt, der diese 2006 in Frankfreich gründete. „Le parfum est mort, vive le parfum!“ ist der Slogan des Hauses, das anfänglich vor allem mit seinem Duft Sécrétions Magnifique von sich reden machte, dem Duft, der Körperausscheidungen huldigt – gemeint sind vor allem Blut, Schweiß und Sperma, was dem Konzeptduft bei mir den Beinamen „der tote Seeräuber“ einbrachte. Sollte jemand nun das Gesicht verziehen – genau das war beabsichtigt bei und mit dem exzellent gemachten, aber eben sperrigen Parfum. Die Riege der Parfumeure, die bisher für EldO tätig waren, liest sich wie ein Who is Who der Branche – Antoine Maisondieu und Antoine Lie, Shyamala Maisondieu, Christine Nagel, Ralf Schwieger, Mathilde Bijaoui, Nathalie Feisthauer und andere, eine ansehnliche Versammlung.
Die Marke hat Schmackes – und außer ihrem Kracher Sécrétions Magnifique auch einiges anderes in petto: zwei besondere Düfte für zwei besondere VIP-Frauen und Schauspielerinnen beispielsweise, nämlich Eau de Protection für Rossy de Palma und Like This! für Tilda Swinton. Rossy de Palma ist, ich glaube das kann man schon so sagen, eine Muse des spanischen Regisseurs und Oscargewinners Pedro Almodóvar und eine herrlich vielseitige, wandlungsfähige Charakterdarstellerin. Ihr EldO-Duft ist eine schöne, samtig-metallische Rose. Zu Tilda Swinton muss man wahrscheinlich eher weniger Worte verlieren – die einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammende Oscargewinnerin ist ebenfalls eine Charakterdarstellerin und weltberühmt. Ihr Duft ist einer meiner All-Time-Faves, ein einhüllender, wärmender Schöngeist mit innovativen Kürbis- und Karottennoten, der an den schottischen Herbst erinnern soll.
Darüber hinaus sollte man, wenn man von Etat Libre d’Orange spricht, sicherlich noch deren Marquis de Sade-Duftprojekt erwähnen, Attaquer le Soleil, ich hatte dazu im Rahmen der Pitti-Berichterstattung einiges geschrieben, seht hier.
Im Rahmen der Artikelbeschreibung zu She was an Anomaly äußern sich Etat Libre d’Orange zu ihrem Hintergrund, ihrem Selbstbild:
„Seit dem Beginn ist Etat Libre d’Orange eine Kuriosität gewesen, eine Abweichung von der Norm, die Exzentriker in der Welt der Parfümerie. Wir passen nicht ins Schema, wir folgen nicht den Traditionen. Etat Libre d’Orange ist eine Studie der Widersprüche: hell und dunkel, dekadent und freundlich, romantisch und zynisch, ehrlich und ironisch. Niemand weiß, was von uns zu erwarten ist. Manchmal wissen wir selbst nicht, was wir von uns erwarten. Etat Libre d’Orange ist eine Anomalie. Wir sind anders, unsere Düfte sind anders, ihre Geschichten sind anders. Wir schätzen diesen Unterschied, wir zelebrieren ihn. Und nun ehren wir diesen Unterschied mit einem Parfum. Das ist, was wir sind.“
Duftendes Anderssein – She was an Anomaly
‚Meine Mutter, sie war eine Anomalie, sie war brillant, sie wurde geliebt, aber sie bezahlte einen hohen Preis.‘ Aus einem Interview mit Lisa Simone in ‚What Happened, Miss Simone?‘
‚Es tut mir leid, Dave, ich fürchte, ich kann das nicht. Ich setze mich voll ein, es kann nur auf menschliches Versagen zurückzuführen sein. Dieses Gespräch erfüllt keinen Zweck mehr. Auf Wiedersehen.‘ HAL 9000 in 2001: Odyssee im Weltraum.
Dazu schreiben Etat Libre d’Orange Folgendes:
„Diese Zitate fassen unser Parfum zusammen, eine Verbindung aus Nina Simone und Stanley Kubrick. Dieser Duft ist ihnen gewidmet, um ihr Talent zu feiern, ihre Abweichung von der Norm, vom theoretischen Wert, vom Erwarteten. Diese Unterschiedlichkeit ist übermäßig, stammt aus einem ‚Computerfehler‘, der die Dosis von Iris und Moschus forcierte und dieses feine Wagnis hat sich zu einem Parfum erhoben, kreiert von Daniela Andrier.“
De Swardt, der Markeninhaber, beschreibt She was an Anomaly als „eine Einzigartigkeit, einen Unterschied“ und somit als Notwendigkeit. Und wie ist der Duft entstanden? Der Hintergrund ist spannend, wie ein Zitat von Parfumeurin Daniela Andrier belegt:
„Dieses Parfum ist das Ergebnis von etwas Unerwartetem. Ich spielte mit Carto, Givaudans KI-gesteuertem Werkzeug, das Formeln vorschlägt. Ich fütterte es mit beliebten und gewohnten Noten. Carto schlug eine Überdosis zweier Ingredienzen vor. Ich habe mich um den Rest gekümmert.“ – Daniela Andrier
Wer oder was ist Carto? Dazu finden sich ein paar Zeilen bei Etat Libre d’Orange:
„As part of its 2020 digital innovation strategy, Givaudan Fragrances is thrilled to announce the launch of « Carto », our latest intuitive and interactive system that reinvents the way perfumers create. Carto is an AI-powered tool that brings science and technology to the service of the perfumers. It is designed to intelligently use our unique ingredients « Odour Value Map » to maximize the olfactive performance in the final formula.“
Vielleicht erinnert Ihr Euch noch an Philyra, die Parfumeur-KI von Symrise? Ich hatte letztes Jahr von dieser Neuerung berichtet, lest hier. Carto hört sich nach einem wie auch immer gearteten Geschwisterchen von Philyra an. Wundern tut mich das gar nicht, dass mit Givaudan ein weiterer Aromastoffhersteller-Riese etwas mit KI auf die Beine gestellt hat.
Und welche Ingredienzen erwarten uns in She is an Anomaly?
Kopfnote: Mandarine
Herznote: Iris, Weiße Blüten
Basisnote: Sandelholz, Zedernholz, Moschus, Vanille, Ambra
Andrier hat hier meines Erachtens nach ein „Rezept“ angewendet, das sehr oft die Grundidee eines späteren Klassikers und/oder Bestsellers war: Gewohntes mit Ungewohntem zu verbinden. Entweder direkt bezogen auf Ingredienzen oder eben auf deren Konzentration(en). Im Auftakt des Duftes schmeicheln saftig-reife Mandarinen, sonnenverwöhnt und süß, die schon bald überleiten auf jene zwei Zutaten, bei denen Andrier an der Lautstärke gespielt hat – Iris und Moschus. Sehr viel mehr pudrige als cremige Iris kokettiert mit watteweichen Moschuswölkchen, denen zudem leise graphitartig tönen sowie sacht-salzige, meerluftige Anklänge verströmen. Zeder säubert und holzt hinein, jene subtile, salzig-maritime Ausstrahlung des Moschus‘ aufgreifend, die im Hintergrund von Vanille gewärmt wird auf eine Weise, welche an Kaschmirpullover und/oder laue Sommerabende erinnert.
She was an Anomaly ist insofern schon eine Anomalie, weil er uns eine Iris serviert, die gleichermaßen pudrig ist und von einer hintergründigen Wärme und Süße, aber dennoch ebenfalls kühl, holzig und luftig. Seine Ausstrahlung als auch sein Charakter ist demnach zugänglich und wohltuend vertraut, gleichwohl auch distinguiert, auf eine stolze Art distanziert.
Ein spannender Duft, der den Spagat zwischen Charakterparfum und Immergeher im Schlaf zu überwinden vermag – nichts anderes hatte ich von Etat Libre d’Orange erwartet.
Schon getestet meine Lieben?
Einen guten Start in die Woche wünscht Euch
Eure Ulrike
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