… begeben wir uns heute: Le Temps Perdu, der dritte Duft der niederländischen Marke, der im Blog rezensiert wird. Für die Nachzügler gibt es hier die Vorstellung von Salle Privée inklusive Rezension von Super 8 sowie hier die Rezension von Monochrome.
Von Düften und Erinnerung – Le Temps Perdu
„Expressive of timelessness and nostalgia. A reference to the most prominent work by Marcel Proust – a novel written in seven volumes – in which the role of memory (notably those brought forth by smell) is a major theme.
A layered composition – warm and animalistic. Uniquely architectural in character, Le Temps Perdu is an alluring and addictive Eau de Parfum.“
Die Ingredienzen:
Ambrettesamen, Ambra, Ambroxan, Moschus, Iso E Super, Hölzer
Le Temps Perdu – Marcel Proust, na klar. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, eines jener Monumentalwerke wie Musils Mann ohne Eigenschaften, das man gelesen haben sollte. In meinem Literaturkanon fehlen auch noch ein paar dieser Klassikerschinken, den Proust allerdings habe ich schon abgehakt. „Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang“ äußerte sich Anatole France 1913 beim Erscheinen des ersten Bandes Du côté de chez Swann, In Swanns Welt oder auch Auf dem Weg zu Swann – nicht wissend, dass diesem noch weitere sechs Bände folgen sollten … Es muss Proust damals getroffen haben, war doch France einer seiner Förderer, der seinen Erstling Les plaisirs et les jours (1896), im Vorwort lobte: „Sein Buch ist wie ein junges Gesicht voll seltenen Reizes und feiner Grazie.“ Einen Verlag zu finden gestaltete sich für Proust und seine Suche gar nicht so einfach – viele etablierte Verlage lehnten das Werk zuerst ab aufgrund seines Detailreichtums, seiner Länge und so weiter, weswegen Proust selbst als Verleger fungierte. 1919 erschien der zweite Band, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Im Schatten junger Mädchenblüte, sowie eine Neuauflage von Swann und es folgte der Ruhm – Proust erhielt den begehrten Prix Goncourt, der in in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte und berühmt werden ließ. Proust starb 1922, vorher veröffentlichte er noch zwei weitere Bände, die er selbst noch überarbeitete, die drei letzten Bände der Suche erschienen allesamt posthum und unvollständig fertiggestellt bis 1927, die erste Gesamtausgabe wurde erst 1954 veröffentlicht. In Deutschland setzten sich vor allem Rainer Maria Rilke und später Walter Benjamin für eine Lektüre beziehungsweise Veröffentlichung des Werks ein.
Um was geht es? Um ein zentrales „Problem“, eine zentrale Fragestellung, die jeden Menschen beschäftig – die Suche nach Wahrheit, das Ringen um Wahrhaftigkeit, somit auch den Sinn des Lebens. Autobiographisch in großen Teilen. Proust schuf damit den französischen Roman des 20. Jahrhunderts, das ist wohl keine Übertreibung.
Die Duftbeschreibung von Le Temps Perdu spielt selbstredend auf jene bekannte Stelle an, die fast jeder Duftliebhaber kennt, weil sie so oft zitiert wird – und die tatsächlich auf eine wahre Begebenheit zurückgeht, denn für Proust war ziemlich genau diese Situation Initiationsmoment für das Schreiben seines Werkes Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, online zu finden unter anderem auf der Webseite von Peter Matussek:
„Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und dieAussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Teemeinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sichin mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Ersteht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt. Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinemHindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. […]
Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick voneinst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? […]
Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, daß ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und daß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen,späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durchden sie ins Bewußtsein hätten emporsteigen können. Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.“ Quelle, siehe Matussek: Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; 10 Bde., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979, Bd. 1, S. 63–67
Immer wieder schön, oder nicht? Wer hat es gelesen, das komplette Werk? Oder vielleicht einen Teil davon? Man bleibt ja gerne auch mal stecken in derlei Büchern 😉 Proust ist mir persönlich auch auf andere Weise in sehr guter Erinnerung, nicht nur deshalb, weil ich die Suche genossen habe … Als ich noch in Stuttgart wohnte, hatte ich dort eine Lieblingskneipe der besonderen Art – das Café Weiß. Es ist so gut wie jedem Stuttgarter ein Begriff, zumindest Gastrokundigen, weil es eine derart lange Historie hat – eine spelunkige Kultkneipe, die in den prüden Fünfzigern unter der Woche Schneiderei, am Wochenende Tanzcafé für Homosexuelle war. Das Interieur – alt, Eckkneipe, Eiche rustikal und dunkle Wände mit viel Patina weil jahrelang Raucherkneipe. Schwere Brokattapeten als Kontrast in Ochenblutrot und Gold, dazu großformatige düstere Ölschinken in goldenen Rahmen, ein bisschen so, wie ich mir eine in die Jahre gekommene Animierbar vorstelle vom Ambiente her … Es fanden sich (und finden vermutlich auch noch) die unterschiedlichsten Menschen ein, Nachtschwärmer, Alternative, ältere Kneipengänger, Kreative, Intellektuelle, eine sehr bunte Mischung, die die spezielle Atmosphäre des Café Weiß schätzten. Und – es fanden dort regelmäßig Proust-Lesungen statt, denn Auf der Suche nach der verlorenen Zeit war der Lieblingsroman des Besitzers, weswegen unzählige unterschiedliche Versionen die Wände zwischen den Gläsern zierten. Insofern erinnert mich Proust auch immer an einige sehr schöne, spannende und interessante Abende und Nächte in „meinem“ Café Weiß …
Aber zurück zu Le Temps Perdu: Der Duft trifft den Zeitgeist mit einer ordentlichen Portion Iso E Super, das Molekül, das geneigte Parfumistas spätestens seit Geza Schoens Escentric Molecules kennen. Das „Super-Molekül“ ist ein Tausendsassa – es duftet nach allem Möglichen, legt sich nicht fest. Holzig, frisch, leicht, warm mit einem Hauch Ambra – easy to like, einfach zu mögen. Jemanden zu finden, der es nicht mag, ist schwierig, weil Iso E Super, abgesehen davon, dass es in den letzten Jahren dermaßen omnipräsent ist in Düften, eigentlich seinem Naturell nach eben nicht nerven kann (es sei denn, man ist der Flut der Iso-Düfte etwas überdrüssig). Wen es interessiert – bei Fragrantica kann man eine kurze Geschichte des Moleküls in der Parfümerie nachlesen.
Le Temps Perdu zelebriert das Molekül, zeigt sich holzig-zedrig und sauber, frisch, seidig, kühl mit einer leisen Minzigkeit und einem Hauch aromatischem Blattgrün, gleichermaßen pudrig, von einer sachten Süße und Wärme beseelt, der für meine Nase zarte Anklänge von Anis und Marzipan innewohnen. Ambroxan wärmt hier zusätzlich, auch hier haben wir es mit einem Immergehermolekül zu tun, das Starqualitäten besitzt, weil es ebenfalls ein Everybody’s Darling ist.
Le Temps Perdu ist unisex mit, wenn überhaupt, einer klitzekleinen Tendenz in Richtung Damenwelt (finde ich). Er ist modern, zeitgemäß und minimalistisch, mehr Aura als Parfum, ein unaufdringlicher Wohlfühlduft. Er ist, wie auch die meisten anderen Düfte, die sich auf bestimmte Moleküle stürzen (siehe Escentric Molecules, Zarkoperfume und Konsorten) nicht umgehend als „Parfum“ zu identifizieren – der Träger oder die Trägerin wird sich aber sicherlich über Komplimente wie „Du riechst aber gut“ freuen dürfen 🙂
Morgen geht es weiter mit Salle Privée – bleibt dran, es bleibt spannend!
Viele herzliche Grüße
Eure Ulrike
P.S.: Ihr werdet es bemerkt haben – „animalisch“ taucht nicht in meiner Beschreibung des Duftes auf, weil es auch nicht in meiner Wahrnehmung präsent war. Warm und animalisch? Nee, nicht bei mir. Und auch nicht auf meinem Teststreifen. Selbst meine Katze, die mit mir auf Kuschelkurs ging während des Verfassens dieser Zeilen duftet jetzt nach der verlorenen Zeit – aber eben nicht nach Tier, mal abgesehen vom Eigengeruch. Wie sieht es bei Euch aus, ich wäre neugierig auf Feedback, meine Lieben!
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