… hat Großbritanniens glorreiche Vergangenheit im Blick: Revenants Vol. I Iron Duke ist dem früheren Duke of Wellington, Arthur Wellesley, gewidmet. Unser heutiges Thema Revenants Vol. II, der vor nicht der vor nicht allzu langer Zeit lancierte zweite Duft, hört auf den Namen Rake & Ruin und ist, unschwer zu erkennen, keiner einzelnen Persönlichkeit zugeordnet, sondern einem achtteiligen Bilderzyklus namens A Rake’s Progress, der Werdegang eines Wüstlings. Wie, was, wo, warum – den ganzen W-Fragen stellen wir uns heute. Und selbstredend auch der Hauptfrage – wie riecht er, der Duft eines Wüstling?
Wie das Leben eines Wüstlings duftet – Rake & Ruin
„In 1751 the novelist Henry Fielding proclaimed that ‘Gin-shops are undoubtedly the Nurseries of all manner of Vice and Wickedness.’
Seeking to illustrate this downfall of public virtue, between 1732-34 the English artist William Hogarth published eight canvases depicting A Rake’s Progress. One of Hogarth’s most infamous works, the protagonist Tom Rakewell’s ruin is depicted by his exposure to high living, prostitutes and gambling. Inspired by these Hogarth’s scenes of degeneracy within the Georgian metropolis we revive their spirit in Rake & Ruin – a fragrance capturing an evening in a tavern, where gin flows, good times are had, and the slide begins…
This powerful Eau De Parfum (30% concentration) features the botanical ingredients of the drinks that filled the glasses, the dark woods of the floors on which they were spilt and animalic allusions to the debauched deeds that took place between them.“
Kopfnote: Gin, Wacholder, Koriander, Angelika (Engelwurz), Orange, Zitrone, Iris, Süßholz (Lakritze), Szechuanpfeffer, Rosa Pfeffer
Herznote: Veilchen, Castoreum, Costus, Labdanum (Zistrose)
Basisnote: Ambra, Rauchige Noten, Moschus, Sandelholz, Hölzer
Rake & Ruin lehnt sich, wie oben bereits erwähnt, an den Bilderzyklus A Rake’s Progress an, der aus einer Serie von Gemälden und Kupferstichen besteht, allesamt entstanden zwischen 1733 und 1735. Zu William Hogarth und seiner Bedeutung fasst Wiki wie so oft perfekt zusammen: Dieser war „ein sozialkritischer englischer Maler und Grafiker, der eine Vorliebe für satirische bildliche Darstellungen hatte. Er gilt neben Thomas Gainsborough und Joshua Reynolds als bedeutendster englischer Maler des 18. Jahrhunderts. Als Vorläufer der modernen Karikaturisten prangerte er in Gemälden und Kupferstichen, die oft als mehrteilige Bildergeschichten erschienen, die Sitten und Gebräuche seiner Zeit schonungslos und mit beißender Ironie an.“
Die acht Bilder des Hogwarthschen Zyklus illustrieren Aufstieg und Fall von Tom Rakewell. Rakewell war von Beruf Sohn und brachte das immense Vermögen seines extrem reichen, aber genauso geizigen Vaters in Windeseile mit seinem ausschweifenden Lebensstil durch, und zwar in den Bordellen und Spielhöllen Londons. Als Folge davon landet er später zuerst wegen Schulden im Gefängnis und hernach in der Psychiatrie, damals noch als Irrenhaus betitelt. Die Serie „Rake“ zu nennen, ist in mehrfachem Sinne zutreffend – Rake stammt nicht (nur) von Rakewell, sondern auch von dem englischen Wort „rake“, das sowohl für Geld scheffeln steht als auch für einen Lebemann und Wüstling. Hogwarths Bilderzyklus beleuchtet am Beispiel Rakewells die „moralischen Verfehlungen der englischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert“, wie man bei Wiki nachlesen kann, was vermutlich einer der Gründe für die enorme Beliebtheit des Werkes war. Die Stiche sollten alsbald in ganz Europa bekannt werden, im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden sie unter anderem von Georg Christoph Lichtenberg kommentiert, der einen Teil der Originale von Hogwarths Witwe in England erwarb (und vor allem von der Technik und Kunstfertigkeit begeistert war). Lichtenberg selbst war ein bedeutender deutscher Aufklärer, ein Allroundgelehrter, wie es sie zur damaligen Zeit noch häufiger gab – Mathematiker, Physiker, Naturforscher und Begründer des deutschsprachigen Aphorismus.
Ebenfalls bei Wiki finden sich einige interessante Details zur kunst- und kulturhistorischen als auch zur soziologischen Einordnung von Hogwarths A Rake’s Progress:
„A Rake’s Progress ist Hogarths zweiter Zyklus von modernen moralischen Themen (modern moral subjects) nach A Harlot’s Progress (dem „Werdegang einer Dirne“) von 1732. Solche Themen waren für die damalige Kunst relativ neu, die immer noch stark von religiösen und mythologischen Bildwelten geprägt war, auch wenn es vor Hogarth in Holland schon volkstümliche Genre-Szenen aus dem bäuerlichen Milieu gab, seit dem 17. Jahrhundert Moritatensänger ihre moralisierenden Schauergeschichten mit Bild- und Musikbegleitung zum Besten gaben und die Gattung des Konversationsstücks, die vor allem in den Niederlanden, in Frankreich und in England beliebt war, nicht nur Adelsfamilien porträtierte, sondern auch Personengruppen aus dem bürgerlichen Milieu zur Darstellung brachte. Hogarths Sujets greifen auf der einen Seite profane zeitgenössische Themen auf, vor allem auch die Niederungen und Abgründe des modernen Lebens, auf der anderen Seite orientiert er sich aber an Formentraditionen der hohen Kunst. Bis heute ist es umstritten, ob er die Genrekunst damit adeln oder umgekehrt die hohe Kunst damit lächerlich machen wollte. Gegenüber der älteren Parodie, die dem Parodierten ihre Reverenz erweist, erscheint er bereits als selbstbewusster Parodist, der sich über das Parodierte erhebt.
Hogarths Bildserien betrachten aus einem satirisch-sarkastischen Blickwinkel die sozialen Verhältnisse und die moralischen Verfehlungen der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Zwar gab es bereits im 16. und 17. Jahrhundert in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Italien, vereinzelt Vorläuferserien mit moralischer Aussage, doch reichten diese an die Qualität von Hogarths Darstellungen nicht heran. Hogarths A Harlot’s Progress beschreibt die Geschichte eines Mädchens vom Lande, das in der Großstadt London der Prostitution verfällt und nach anfänglichen Erfolgen als Hure an ihrem Lebenswandel elend zugrunde geht. Die Protagonistin Moll oder Mary Hackabout ist dabei eine Art weibliches Gegenstück zum negativen Helden Tom Rakewell aus A Rake’s Progress, wo die Inhalte von Hogarths erstem „modernen moralischen Sujet“ aufgegriffen, weiterentwickelt und auf das gesellschaftliche Scheitern einer unmoralisch agierenden männlichen Person übertragen werden.“
Hogwarths Motivik sowie die Verbreitung seiner Werke lässt sich wohl biographisch erklären: sein Vater war Lehrer, als Verfasser von Lateinbüchern ziemlich erfolglos und scheiterte hernach mit einem Kaffeehaus samt dessen spezieller Ausrichtung (Latein als alleinige Sprache vor Ort), was später zu einem zwangsweisen Aufenthalt in einem Schuldengefängnis führte und ihn später trotz Amnesie als gescheiterte Existenz und gebrochenen Mann zurückließ. Insofern stand „Geld verdienen“ beziehungsweise eine erfolgreiche Vermarktung der Produkte der eigenen Schaffenskraft bei William Hogwarth immer auch mit im Vordergrund, was ihm mit der Wahl seiner Bildmotive als auch seinen Kupferstichen (Stichwort: Reproduzierbarkeit, Serienfertigung) gut gelang.
Von William Hogarth – The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, Link
Von William Hogarth – Unbekannt, Gemeinfrei, Link
Die beiden Bilder zeigen das dritte Bild des Bilderzyklus, einmal in der Öl- als auch in der Kupferstichvariante – The Tavern Scene, der Beginn des (moralischen) Verfalls von Tom Rakewell, dargestellt in der berühmt-berüchtigten Londoner Rose Tavern in der Drury Lane, die im 18. Jahrhundert als Sodom und Gomorra galten, als Ort des Lasters und der Ausschweifungen, der „Sünde“, wenn man so möchte, in jedem Fall aber der Tugendlosigkeit. Prostitution und Gin-Ausschänke dominierten die Gegend wohl damals, Tom frönt diesen Lastern ganz offensichtlich – er räkelt sich auf dem Sessel im Bild, umringt von Huren und mit einem Gläschen Alkohol, das seinem vernebelten Blick sowie der Uhrzeit (3 Uhr nachts) nach zu urteilen ganz bestimmt nicht sein erstes war … Auch sonst geht es eher gelöst zu – eine Stripperin, die gerade dabei ist, sich nackig zu machen, zwei Frauen, die ein ganz und gar undamenhaftes Spuckduell veranstalten, zerbrochene Gläser und verunstaltete Gemälde. Nur ein Gemälde zeigt keine Vandalismusschäden, was bezeichnend ist – es handelt sich um eine Darstellung des Kaisers Nero, der damals noch als derjenige galt, der Rom in Brand gesteckt haben soll. Ein guter Punkt, denn wir sehen auf dem Bild Hogwarths ebenfalls eine Frau, die gerade dabei ist, einen Brand auszulösen, ob nun bewusst oder unbewusst, sie scheint nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein und wirkt berauscht – seht die „Dame“ mit dem Kerzenleuchter vor der Weltkarte. Darüber hinaus mutmaßen Kunsthistoriker, ob die Anzahl der abgebildeten Personen eine Bedeutung hat – es sind nämlich genau zwölf, genauso wie beim christlichen Abendmahl, was darauf hindeuten könnte, dass Hogwarth eine Art, vorsichtig ausgedrückt: verweltlichte Abendmahlszenerie ausdrücken wollte.
Jetzt, wo wir uns den Hintergrund zu Rake & Ruin erschlossen haben, bin ich neugierig auf den Duft, der fast genauso hochkonzentriert daherkommt wie die Alkoholika, die er zitiert, vor allem aber der Gin. Gin, eingebettet in das damals noch verrauchte Kneipenleben, alte (und vor allem dunkle) Holzmöbel und Holzböden, überall Patina dank der Ausschweifungen und Orgien samt verschwendeter Flüssigkeiten und ein Quentchen Tier … BeauFort London sind ohnehin bekannt für kantige und raumgreifende, zumeist düstere Düfte, er muss also umgehend rauf auf’s Handgelenk …
… und enttäuscht mit nicht, was bin ich froh! Leo Crabtree, der Inhaber der Marke und seines Zeichens Bandmitglied von The Prodigy, und seine Parfumeurin Julie Dunkley, die für alle Düfte der Marke verantwortlich ist, lassen es einmal wieder krachen, Gott sei Dank. Und sind sich einmal mehr nicht zu schade dafür, die dunklen Seiten unserer Existenz auszuleuchten – sei es nun Lasterhaftigkeit oder in Shakespeare-Manier dramaturgisch perfekt auf olfaktorische Weise festgehaltene Geschichten und Tragödien voller Emotionalität. Das Ergebnis ist einmal mehr ein Duft, der Kante zeigt. Und nur Menschen begeistern wird, die bereit sind, sich darauf einzulassen. Auf Gerüche, die außer einigen wenigen „Verrückten“ niemand in Parfums sehen möchte. Die aber eben diese, inklusive meiner Person, umso mehr begeistern werden. Fans von Comme des Garçons, von D. S. & Durga, Andrea Maack, Unum und anderen (mehr oder weniger) konzeptionellen Avantgarde-Labeln sollten unbedingt testen!
Wir haben es bei Rake & Ruin mit einem rauchigen Duft zu tun, in allererster Linie. Terpentin, Feuer, Glut, Kiefernholz, es kokelt und glimmt und glüht ganz gewaltig, was nebenbei eine fast räucherspeckartige Note entwickelt, wie ich sie aus Annick Menardos Patchouli 24 für Le Labo kenne. Letzterer allerdings wird im weiteren Verlauf zahmer, zeigt sich „gefälliger“ (in diesem Zusammenhang eigentlich kein adäquates Wort) – darauf verzichtet Rake & Ruin erwartungsgemäß 😉 Pfeffer kitzelt meine Nase, nein, eigentlich beißt er, zeigt sich wild und ungebärdet, Süße erfährt Rake & Ruin ausschließlich durch eine Prise Lakritze, die hin und wieder würzig-dunkel schimmert und mir wie die feine Ironie, der Sarkasmus eines „Hofnarren“ vorkommt, eines stillen Beobachters am Rande des orgiastischen Geschehens in der Bar. Ein Flaneur, der mit Blicken und Gedanken sinnierend seziert, mittendrin und trotzdem kein Teil des Geschehens, kein aktiver. Der Boden unserer Lokalität hat schon etliche Liter Alkoholika geschluckt im Laufe der Zeit – heftige Holznoten, bisweilen birkenteerig anmutend (Tauer lässt grüßen), von Gin und vor allem auch hochprozentigem Schnaps getränkt. Die Specknote schlägt irgendwann um in eine heftige, deftige Ledernote, die mitunter schweißig daherkommt wie eine alte Lederjacke, die irgendwo in der Ecke liegt, ihrer angestammten, wo sie schon oft hing und ebenfalls schon unfreiwillig einige Drinks genossen hat in ihrem Klamottenleben – hier spielt vor allem Castoreum eine dominante Rolle.
Muss man das mögen? Nein. Aber man muss es respektieren. Rake & Ruin ist ziemlich perfekt, aber eben nicht für jeden. Wer unter einem Duft ein Parfum versteht, etwas, das gefällig und gut duften „muss“, ist sicherlich weder bei BeauFort London noch bei den anderen oben genannten Marken gut aufgehoben. Wer allerdings Konzeptdüfte mag, wer für Duftkunst etwas übrig hat – der sollte sich das Erleben dieser düsteren Duftgeschichte nicht vorenthalten. Und vielleicht ist es eine neue Liebe? Ich liebäugele in jedem Fall bereits, aber das dürften regelmäßige Leser bereits bemerkt haben … 😉
Einen wundervollen Tag Euch und viele herzliche Grüße
Eure Ulrike
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