„We do not create fragrances for the masses but for the freethinkers. Inspired by iconic works of literature. Suitable for the confident man or woman.“
Timothy Han ist gebürtiger Kanadier und wohnhaft in London, wo auch der Sitz seiner Marke Timothy Han / Edition ist. Sein Werdegang: Studium an der L’Ecole Supérieure des Arts et techniques de la Mode in Paris und an der Architectural Association School of Architecture in London, darüber hinaus war er Assistent bei John Galliano. Nun also – Duft. Düfte. Und zwar mit einem ziemlich klar formulierten Anspruch:
„In a sea of monotony, we craft olfactory stories for the individual. They are our friends and heroes who constantly challenge the norm and find monotony on the trodden path. They are the thinkers, the makers and explorers.“
Parfüms für Freigeister, für Individualisten, nicht für die Massen – inspiriert durch Klassiker der Weltliteratur. Ich bin gespannt: Von Büchern geschweige denn Klassikern lassen sich wenige inspirieren. Anaïs Biguine widmet sich mit ihrer Marke Jardin d’Ecrivains konzeptionell den großen Namen der Weltliteratur, ansonsten wollen mir nur einzelne Düfte, vielleicht noch Linien von Marken einfallen, die sich mal mehr, mal weniger konzentriert auf bestimmte Werke oder Schriftsteller beziehen: Byredos Baudelaire selbstredend und Attaquer le Soleil von État Libre d’Orange, darüber hinaus by Kilian, Histoires de Parfums, ferner Giulietta Capuleti und einige mehr.
So bin ich selbstredend gespannt, von welchen Werken sich Timothy Han inspirieren ließ.
„We don’t just create perfume. We craft olfactory stories that unfold on your skin over time. From the ever changing rhythm of our award winning debut fragrance She Came to Stay to the opening chapters of the hot tarmac rising from the New York summer streets of On The Road, our fragrances take you on a journey in scent.“
Warum Edition? Weil die Düfte in Kleinserien hergestellt werden. Jede Charge erhält ihre Editionsnummer, das hat man sich bei Wein und Co. abgeschaut – und es hat noch einen weiteren Vorteil für Parfumistas:
„Botanische Zutaten variieren von Jahr zu Jahr abhängig von den jahreszeitlichen Einflüssen wie Temperatur oder Niederschlag. Diese winzigen Variationen können die olfaktorischen Eigenschaften der Duftstoffe verändern und dazu führen, dass Duftliebhaber große Anstrengungen unternehmen, um „diesen“ speziellen Jahrgang ihres Lieblingsparfums zu finden. Also anstatt zu versuchen, die Offenlegung dieser subtilen Veränderungen zu vermeiden, haben wir uns entschieden, sie zu zelebrieren, indem wir Ihnen die Möglichkeit bieten, die Chargennummer des Parfums zu identifizieren, aus dem Ihr Flakon stammt. Werfen Sie einen genauen Blick auf den Flakon, sie werden bemerken, dass nach dem Parfumtyp eine Nummer angegeben wird, die Ihnen sagt, welche Charge sie besitzen.“
Die Priorität hinsichtlich der Ingredienzen liegt also auf natürlichen Zutaten, die in einer zertifzierten Bio-Weingeistbasis daherkommen. Allerdings räumt die Marke ein, dass man mitunter auch Synthetik verwendet oder vielmehr „naturidentische“ Inhaltsstoffe – und zwar aus Gründen der Ethik (Tierschutz), darüber hinaus selbstredend auch wegen der Verordnungen (IFRA) als auch um bestimmte Akkorde zu kreieren, die auf natürliche Weise nicht oder nur unzureichend olfaktorisch darstellbar sind.
Drei Düfte der Timothy Han / Edition sind dieser Tage bei uns gelandet, The Decay of the Angel, On the Road und She Came to Stay, die uns diese Woche beschäftigen werden.
Im übrigen hat Timothy Han einige Video-Clips geschaffen zu seinen Düften – beispielsweise diesen hier, The Drummer:
„A short film inspired by the free spirited attitude of the Beat Generation that tells the story about a drummer searching for solace on the roof tops of East London to practice his art.
The Drummer is a short story about being an individual and following your passions. Featuring Mr Cillian Sheil whose passion for drumming leads him to find a space of solitude in the frenetic heart of the city. A place where he can practice his drums undisturbed and with the wind on his face.“
Die Attitüde von Sheil, seine Leidenschaft für seine Kunst, steht für Timothy Han stellvertretend für jene Menschen, die täglich inspirieren mit ihrer Entscheidung, abseits der Norm ihre Träume zu verfolgen. Jene Menschen, für die die Timothy Han / Edition bestimmt ist. Ein englischsprachiges Interview mit Han findet Ihr hier – Podcast.
The Decay of the Angel
„Das Parfum wurde von Yukio Mishimas gleichnamigem Werk aus dem Jahr 1971 inspiriert, dem vierten und letzten Roman in der Tetralogie des Meeres der Fruchtbarkeit: „Die Todesmale des Engels“. Ein reicher, exotischer und blumiger Duft mit einer subtilen Kopfnote, die vom Duft des Verlangens herrührt und von welkenden Blumen durchdrungen wird: der Duft eines fallenden Engels.
Die Botschaft handelt von der Inkarnation unserer Menschlichkeit, die uns ermutigt, die Schönheit in den Schwächen und der Zerbrechlichkeit des Fleisches zu finden – letztlich eine Geschichte der Geburt und vor allem der Wiedergeburt.
Der Duft basiert auf den fünf Stadien eines fallenden Engels: Untergang, Transpiration, Schmutz, Unzufriedenheit und Dunkelheit. Sie werden durch einen kraftvollen Duft widergespiegelt, der mit der Süße der welkenden Blumen und einem Hauch von natürlichen Oud, Atlas-Zedernholz, Weihrauch und spanischem Cade kombiniert wird, um einen unverkennbaren und einzigartigen Eindruck von verbranntem Holz zu verleihen. Moschus und Hedione verleihen ihm einen dunklen und schmutzigen Hauch des Verlangens. Dies wird zusammen mit Hedione erreicht, dem einzigen bekannten Duftstoff, der Erregung auslöst, sowie Moschus, um den dunklen und schmutzigen Akzent des Verlangens zu wecken und den Abschluss des gefallenen Engels zu finden.“
Kopfnote: Mandarine, Neroli, Rose, Ylang-Ylang, Weihrauch; Herznote: Jasmin, Akazienblüte, Wacholder; Basisnote: Adlerholz (Oud), Zedernholz, Patchouli, Tonkabohne, Labdanum (Zistrose).
The Decay of the Angel hat demgemäß einen Roman zum Vorbild, den sicherlich nicht viele kennen werden – und punktet bei mir damit nicht unerheblich. Ich liebe japanische Literatur und ich liebe Yukio Mishimas Werk, vor allem seine Tetralogie Das Meer der Fruchtbarkeit und Der Seemann, der die See verriet.
Mishima ist eine extrem umstrittene Person: Er wurde früh geprägt von seiner Großmutter, die ihm die Liebe zum Kabuki-Theater nahebrachte und vermutlich auch seine Leidenschaft für Kunst und Literatur nährte, vor allem auch deutsche Literaten. Er lernte später an der Universität Deutsch, hegte eine große Leidenschaft für Thomas Mann und Rainer Maria Rilke, ferner auch für Oscar Wilde. Die andere Person, die Mishimas Persönlichkeit mit prägte war sein Vater, der bei einem Ministerium beschäftigt war und ihn mit militärischem Drill erzog (und mit seinen schöngeistigen Anwandlungen wenig anfangen konnte). Mishima begann früh zu schreiben, fand in Kawabata Yasunari, dem (einzigen japanischen) Literaturnobelpreisträger, seinen Mentor. In dieser (literarischen Anfangs)Zeit entstand auch sein autobiographischer Roman Geständnis einer Maske, der seine Homosexualität thematisiert. In Folge verfasste Mishima diverse Erzählungen und Romane, mit denen er auch international Erfolg hatte – er war einige Male auch im Gespräch für den Literaturnobelpreis, den er sicherlich aber auch deshalb nicht erhielt, da er in Folge einen zweifelhaften Weg beschritt. Ich zitiere an dieser Stelle Wiki:
„Nach 1960, angesichts der linken Studentenunruhen in Tokio, wandte sich Mishima zusehends nationalistischen Ideen zu. In seinem Aufsatz Bunka Bōeiron (文化防衛論, deutsch „Verteidigung einer Kultur“) argumentierte Mishima 1968, dass der Tennō, der Kaiser von Japan, die Quelle der japanischen Kultur sei und die Verteidigung des Kaisers somit auch eine Verteidigung der eigenen Kultur sei. Er formierte eine überwiegend aus rechten Studentenkreisen rekrutierte, etwa 80 Mann starke Privatarmee, die Tatenokai („Schildgesellschaft“), die sich der Bekämpfung des Kommunismus und dem Schutz traditioneller japanischer Werte und des Kaisers verschrieb. Auch plädierte er für eine nukleare Aufrüstung Japans. […] Am 25. November 1970 nahm Mishima mit vier Mitgliedern der Tatenokai in Tokio den diensthabenden Kommandanten der japanischen Streitkräfte als Geisel. Vom Balkon des Hauptquartiers (heute Sitz des japanischen Verteidigungsministeriums) hielt er eine Rede, in der er die Armee zur Besetzung des Parlamentes und zur Wiedereinsetzung des Kaisers aufrief. Sein Appell blieb jedoch auf Grund des Desinteresses der Soldaten folgenlos. Unmittelbar danach begingen Mishima und einer seiner engen Vertrauten Seppuku [Harakiri – der Begriff wird aber in Japan selbst für diese charakteristische Art des Suizids nicht verwendet] und ließen sich von einem dritten Anwesenden enthaupten.“
Diese Tat, deren Motivation wissenschaftlich kontrovers diskutiert wird und von vielen als politisch motivierter Akt angesehen wird, samt der Mishima zugesprochenen Gesinnung macht ihn noch heute zu einem Vorbild japanischer Rechtsextremer, was wiederum eigentlich in krassem Gegensatz zu seiner Homosexualität stehen dürfte (die von seiner Witwe abgestritten wurde). Viel mehr traue ich mir an Beurteilung nicht zu – wer sich ein bisschen mit japanischer Kultur beschäftigt hat, weiß, dass sie grundverschieden ist von der unsrigen, insofern halte ich mich hier zurück, übertragen kann man dafür einfach zu wenig. Wer sich noch etwas mehr einlesen möchte – hier findet Ihr ein Autorenporträt, eine erweiterte Zusammenfassung seines Lebens, einen uralten Spiegel-Artikel (1985) habe ich auch noch ausgegraben.
Die Todesmale des Engels ist Mishimas letztes Werk, die allerletzten korrigierten Seiten desselben hinterließ er am Tag seines Suizids in einem an seinen Verleger adressierten Umschlag in seiner Wohnung. Der Roman handelt von einem alten Mann, der einen jungen Waisen adopiert, der ihn an einen Jugendfreund erinnert, von einer toxischen Beziehung, die sich zwischen den beiden entspinnt, und die als Sinnbild gesehen werden kann – für die Zerrissenheit Mishimas, jenem misanthropischen Exzentriker, der sich zeit seines Lebens irgendwo auf dem schmalen Grad zwischen irrlichterndem Genie und wahnsinnigem Narren bewegte. Der vermutlich, wie schon der Name seines Erstlings verrät, oft eine Maske trug, aber ein Werk schuf, das hinsichtlich der Schönheit seiner Sprache, seiner Bildgewalt, seinesgleichen sucht.
The Decay of the Angel zelebriert olfaktorisch jene Zerrissenheit, weiß sie abzubilden: Die Sattheit eines, ich möchte nicht sagen: erfüllten Lebens, aber eines angefüllten Lebens, eines Lebens, das gelebt wurde. Jene Traurigkeit, die dem „Verwelken“ innewohnt, der sich immer mehr in den Vordergrund rückenden Vergänglichkeit, die sich bereits in der vollen Blüte, der Opulenz ankündigt. Prägnant ist vor allem das Aroma des Juniperus Oxycedrus, des Stech-Wacholders, einer Zypressenart, die vornehmlich in höheren Lagen des Mittelmeerraums zu finden ist. Dessen Duft erinnert an geräuchertes Holz, klingt teerig an und ledrig, wobei hier keinesfalls Handschuhleder gemeint ist, sondern wettergegerbtes (Sattel?)Leder mit ordentlich Patina. Eine strahlkräftige aromatische Note wohnt dem Holz inne, die sicherlich von den fruchtigen Aspekten der Rosen unterstützt wird. Hier und da scheint Licht hindurch, schillern des Lebens süße „Früchte“ der Erinnerung hervor in Form von nektarsüßen Blüten, bisweilen an sämigen Honig erinnernd – und haben doch wenig Chance gegen die Kraft des kokeligen Holzes, das von Oud tatkräftig unterstützt wird in seinem Naturell. Die Basis verleiht dem Duft eine gewisse hintergründige balsamische Wärme, vor allem aber Würzigkeit.
Ein Charakterduft, keine Frage. Ein Statement, das klare olfaktorische Kante zeigt. Und für mich ein überaus gelungener Auftakt, der mich noch neugieriger auf die restliche Kollektion macht, als ich es ohnehin schon war 😉
Bis morgen, meine Lieben –
herzlichst
Eure Ulrike
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