Mein Alter Ego heißt auch Hermann und geht montags vor der Arbeit noch zwei Stunden ins Fitness-Studio.
État Libre d’Oranges neuester Streich trägt den etwas sperrigen Namen „Hermann à mes côtés me paraissait une ombre“ und hat in der Namenslänge damit selbst die hauseigenen „Fils de Dieu du Riz et des Agrumes“ und „Don’t get me wrong baby, I don’t swallow“ übertrumpft. Hermann, da fühle ich mich doch fast angesprochen, denn Harmen ist die friesische Variante dieses alten deutschen Namens, der von „Heer“ und „Mann“ kommt und somit Krieger bedeutet.
Wer reitet so spät …?
Um das Geheimnis aufzulösen, der ausführliche Produktname ist eine Zeile aus dem Gedicht „À quoi songeaient les deux cavaliers dans la forêt“ (etwa: Gedanken zweier Reiter im Wald) von Victor Hugo („Der Glöckner von Notre-Dame“, „Die Elenden“). Sie bedeutet zu Deutsch: „Hermann an meiner Seite erschien mir wie ein Schatten“. Aber wer reitet nun so spät durch Nacht und Wind? Witzbolde antworten: „Es ist der Vater mit seinem Kater.“ Es ist jedenfalls nicht der Vater mit seinem Kind, sondern ein namenloses lyrisches Ich, das Zwiesprache mit einem gewissen Hermann hält, dem schattenhaften Begleiter, den man durchaus als Alter Ego deuten kann.
Leider gibt es keine vernünftige deutsche Übersetzung dieses Gedichts. Die Übersetzung im Pressematerial schien mir direkt von der ebenfalls durchwachsenen englischen Version zu stammen, was die Sache nun wirklich nicht besser macht. Mit meinen wenigen Brocken Französisch komme ich hier auch nicht weit. Wie gut, dass mir mein ehemaliger Chef von der Uni einfiel. Ich habe während Studium und Promotion u. a. in der Fakultätsbibliothek Neuphilologie an der Uni Tübingen als Hiwi gearbeitet. Mein damaliger Chef Dr. Thomas Hilberer hat über Victor Hugo promoviert. Seine Doktorarbeit handelt sogar von dessen Werk „Les Contemplations“, aus dem dieses Gedicht stammt. Man muss nur die richtigen Leute kennen … 😉 Nur mit seiner Hilfe konnte ich einige Fehler entfernen und den Text ein wenig glätten; natürlich ist dies keine Nachdichtung, aber man erhält nun einen guten Eindruck vom Inhalt. Und ganz vielen Dank an dieser Stelle an Thomas Hilberer für seine Hilfe.
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A quoi songeaient les deux cavaliers … | Gedanken zweier Reiter im Wald |
La nuit était fort noire et la forêt très-sombre. Hermann à mes côtés me paraissait une ombre. Nos chevaux galopaient. A la garde de Dieu ! Les nuages du ciel ressemblaient à des marbres. Les étoiles volaient dans les branches des arbres Comme un essaim d’oiseaux de feu. |
Die Nacht war tiefschwarz und der Wald sehr dunkel. Hermann an meiner Seite schien mir wie ein Schatten. Unsere Pferde galoppierten. In Gottes Hut! Die Wolken am Himmel erschienen wie aus Marmor. Die Sterne flogen durch die Zweige der Bäume Wie ein Schwarm von Feuervögeln. |
Je suis plein de regrets. Brisé par la souffrance, L’esprit profond d’Hermann est vide d’espérance. Je suis plein de regrets. O mes amours, dormez ! Or, tout en traversant ces solitudes vertes, Hermann me dit : «Je songe aux tombes entr’ouvertes ;» Et je lui dis : «Je pense aux tombeaux refermés.» |
Ich bin voller Reue. Gebrochen durch Leiden, Hermanns tiefer Geist ist ohne Hoffnung. Ich bin voller Reue. Oh meine Geliebten, schlaft! Doch während ich durch die grüne Einsamkeit reise, Spricht Hermann zu mir: „Ich grüble über halb offene Gräber.“ Und ich sage zu ihm: „Ich denke an geschlossene Gräber.“ |
Lui regarde en avant : je regarde en arrière, Nos chevaux galopaient à travers la clairière ; Le vent nous apportait de lointains angelus; dit : «Je songe à ceux que l’existence afflige, A ceux qui sont, à ceux qui vivent. — Moi, lui dis-je, Je pense à ceux qui ne sont plus !» |
Er blickt in die Zukunft: Ich sehe zurück, Unsere Pferde galoppierten über die Lichtung; Der Wind brachte uns aus der Ferne das Angelusläuten; er sagt: „Ich denke an die, die das Leben bedrückt, An die, die sind, an die, die leben. „Ich“, sage ich zu ihm, „ich denke an die, die nicht mehr sind!“ |
Les fontaines chantaient. Que disaient les fontaines ? Les chênes murmuraient. Que murmuraient les chênes ? Les buissons chuchotaient comme d’anciens amis. Hermann me dit : «Jamais les vivants ne sommeillent. En ce moment, des yeux pleurent, d’autres yeux veillent.» Et je lui dis : «Hélas! d’autres sont endormis !» |
Die Brunnen sangen. Was sagten die Brunnen? Die Eichen murmelten. Was murmelten die Eichen? Die Büsche flüsterten wie alte Freunde. Hermann sagt zu mir: „Die Lebenden schlummern nie. In diesem Moment weinen einige Augen, andere Augen sind wach.“ Und ich sage zu ihm: „Ach! Andere schlafen!“ |
Hermann reprit alors : «Le malheur, c’est la vie. Les morts ne souffrent plus. Ils sont heureux ! j’envie Leur fosse où l’herbe pousse, où s’effeuillent les bois. Car la nuit les caresse avec ses douces flammes ; Car le ciel rayonnant calme toutes les âmes Dans tous les tombeaux à la fois !» |
Hermann fährt fort. „Das Unglück, das ist das Leben. Die Toten leiden nicht mehr. Sie sind glücklich! ich beneide sie um Ihr Grab, auf dem Gras wächst, auf dem Bäume ihre Blätter lassen. Weil die Nacht sie mit sanften Flammen liebkost; Weil der strahlende Himmel alle Seelen beruhigt In allen Gräbern zugleich!“ |
Et je lui dis : «Tais-toi ! respect au noir mystère ! Les morts gisent couchés sous nos pieds dans la terre. Les morts, ce sont les coeurs qui t’aimaient autrefois C’est ton ange expiré ! c’est ton père et ta mère ! Ne les attristons point par l’ironie amère. Comme à travers un rêve ils entendent nos voix.» |
Und ich sage zu ihm: „Sei still! Achte das schwarze Geheimnis! Die Toten liegen in der Erde unter unseren Füßen. Die Toten, das sind die Herzen, die dich einst liebten Dein verstorbener Engel! Dein Vater und deine Mutter! Mache sie nicht traurig durch bittere Ironie. Denn wie in einem Traum hören sie unsere Stimmen.“ |
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Da war doch noch etwas … richtig, der Duft
Über all dem Übersetzen sollte ich nicht vergessen, dass es letztlich um den Duft geht. Haben wir es hier mit einem berittenen Waldschrat zu tun, der – ganz Sonderling – Selbstgespräche führt?
Wie so oft bei État Libre wird das Ganze nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Kein schwermütiger, romantischer Waldduft, im Gegenteil. Johannisbeere vermengt sich mit pfeffrigen und ozonischen Noten, die Reiter haben die Nase im Wind. Die Angelusglocke klingt in einer angenehmen Weihrauchschwade, holzige Noten und eine trockene Ambroxan-Note vermengen sich mit einem hell-floralen, lieblichen Grundton. Auf längere Sicht setzt sich eine entrückt wirkende holzige Weihrauchnote durch. Wie passt denn das zur Geschichte? Ich hatte zu sehr das Gedicht im Kopf, das doch düster, schwermütig und fast unheimlich daherkommt.
Die Duft-Komposition
Kopfnote: Johannisbeere, Schwarzer Pfeffer, Galbanum, Ozonische Noten
Herznote: Erde, Weihrauch, Hölzer, Florale Noten, Rose
Basisnote: Patchouli, Ambroxan
Parfümeur Quentin Bisch, der bereits auch „La Fin du Monde“ für État Libre kreierte, ging sicher vom Bild des Parfums als Schattens aus, denn so stellt sich der Duft meines Erachtens dar. Vielleicht gehe ich der Geschichte gerade auf den Leim, aber das Parfum bleibt merkwürdig zurückhaltend, als würde nicht es bestimmen, wohin die Reise geht. Es besitzt tatsächlich etwas Schattenhaftes und wird zu einem duftenden Alter Ego, das nicht etwas völlig Neues zeigt, sondern eine Variante des Trägers. Eine wirklich spannende Idee, die hervorragend umgesetzt wurde. Gefallen könnte dieser Duft gerade auch Freunden „molekularer“, synthetischer „Pheromon“-Düfte (Escentric Molecules, Comme des Garçons, Juliette Has a Gun, Zarkoperfume).
Der Duft als treuer Begleiter – Sorgen sollte man sich erst machen, wenn man mit seinem Duft über Leben und Tod diskutiert. Bis dahin kann man „Hermann à mes côtés me paraissait une ombre“ aber als Aura oder Schatten tragen und mit ihm angeregt diskutieren, ob Parfums generell als Metaphern eines anderen Ich zu verstehen sind.
Ich wünsche Euch gute Gespräche mit Eurem imaginären bzw. olfaktorischen Freund!
Harmen
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