… wir heute nach Madagaskar und Süditalien, genauer – Kalabrien: 14°S 48°E – Madagaskar – Zuversicht im Unbekannten & 38°N 16°E – Kalabrien – Der Ausstieg aus der geliebten Tradition.
Fangen wir in der Ferne an, auf Madagaskar:
„Akkord I – Juwel der Küste
Ylang-Ylang, auch als die „Blume der Blumen“ bezeichnet, findet in der Region Ambanja im nördlichen Madagaskar ein hervorragendes Terroir um ihren betäubenden, blumigen und leicht würzigen Duft optimal zu entfalten. Die großen Blüten mit den sechs grünlich-gelben, wunderschön geschwungenen, zungenförmigen Blütenblättern wachsen auf immergrünen Bäumen im tropischen Regenwald. Das warme und feuchte äquatoriale Klima mit Regenwäldern, die bis zu den Sandstränden reichen, die vulkanische Erde und der sandige Boden des Sambirano-Flusses machen Ambanja zum idealen Ort für Ylang-Ylang. Die üppige Blütentracht kann das ganze Jahr geerntet werde, um das wertvolle ätherische Öl zu gewinnen, das die Lebensfreude und Sinnlichkeit des Terroirs ausdrückt.Akkord II – Hotspot des Artenreichtums
Der Norden Madagaskars ist gekennzeichnet von einem einzigartigen Reichtum an Biodiversität, die in seinen tropischen Regenwäldern verborgen ist. Bedingt durch die lange geografische Isolation der Insel konnten sich Pflanzen und Tiere entwickeln, die weltweit einzigartig sind. Andererseits ließen sich aufgrund der strategischen Lage Madagaskars verschiedene europäische Seefahrervölker nieder, die Pflanzen aus anderen tropischen Ländern zum Anbau importierten. So wurden verschiedene Zitrusbäume auf der Insel angepflanzt, deren Früchte die Seefahrer während der langen Überfahrten nach Europa vor Skorbut bewahrten. Bei Streifzügen durch die Wälder von Ambanja kommt es deshalb vor, dass das orientalische Duftbouquet, geprägt von den Ylang-Ylang-Blüten und den pfeffrig riechenden Schoten des Rosa Pfeffers, durch eine zart bittere und fruchtig frische Mandarinennote perfekt abgerundet wird.Akkord III – Reichtum der Natur
In Ambanja leben vorwiegend Kleinbauern in naturverbundenen Dorfgemeinschaften, die auf bescheidenen Landflächen eine große Vielfalt an Nutzpflanzen anbauen. Zu Beginn ist es schwer, ihre Felder vom ursprünglichen Regenwald zu unterscheiden. Erst bei näherem Hinschauen entdeckt man fasziniert, dass vorwiegend essbare Pflanzen für den Eigengebrauch und den lokalen Markt, aber auch Pflanzen für den Export, wie Kakao, Vanille und Vetiver, auf kleinster Fläche nebeneinander wachsen. Diese artenreiche Nutzung der Äcker stabilisiert das Ökosystem und ermöglicht es den Bauern, sich ein zuverlässigeres Einkommen zu sichern. Die Duftwelt auf den Äckern ist geprägt von der Freiluftfermentierung der Vanilleschoten, die die ganze Umgebung in einen süßlich-warmen Duft einhüllt, vom erdigen und holzig-balsamischen Aroma der Vetiverdestillation und von der leicht nussigen Gourmandnote des über dem Feuer gerösteten Mais.“
Der zugehörige Ort zu Längen- und Breitengrad liegt irgendwo im Nirgendwo, ziemlich weit oben im Süden Madagaskars, direkt vor der westlichen Küste – klar, wenn schon von Seefahrern die Rede war. Ylang, rosa Pfeffer und Vetiver spielen die Hauptrollen in dem Duft, was mich als alten Vetiver-Freund natürlich aufhorchen lässt.
Schnell auf die Haut gesprüht und schon steigen mir erste Noten in die Nase: Weißblühend-pilzig mit Kaugummituberose à la Fracas, erdig mit einem Hauch Tier, urwaldig-dämpfig, von einem Hauch zitrischer Frische aufgelockert und von hintergründiger, latent scharfer Pfefferwürze veredelt. Ein herrliches Spiel, das sich durch den ganzen Verlauf zieht und sich im Nachgang dann durch Vetiver bereichert sieht. Vetiver in all seinen Facetten – salzig-grasig, verhalten rauchig und frisch-grün.
Vetiver und Tuberose ist eine gar vorzügliche Kombination, die hier auf eine erotische Art und Weise zum Tragen kommt: Das Salz des Vetivers vermengt mit den betörenden Noten jenes narkotisierenden Weißblühers Tuberose – das ist … eigen. Und mutig. Dabei aber unverschämt weiblich und sexy.
Reisen wir nun weiter in den Süden Italiens:
„Akkord I – Die goldene Frucht
Einer der vielleicht edelsten Düfte, klar und frisch und doch blumig-süß, ist das Bergamottenöl, gewonnen aus den Schalen der leuchtend gelben Zitrusfrüchte. Das einzigartige Klima des schmalen kalabrischen Küstenstreifen entlang der Meerenge von Messina bringt die Blüten der Bergamotte zum Erblühen und ihre Früchte zum Reifen. Durch die stetige Meeresbrise sind die Schwankungen zwischen der Tages- und der Nachttemperatur klein und die Lage am Fuße des Aspromontengebirges gewährleistet regelmäßige Regenfälle. Da die Bergamotte fast ausschließlich in dieser Region gut gedeiht, ist die Legende entstanden, dass sie nur mit Blick auf den Ätna auf der gegenüberliegenden Küste der Meerenge von Messina wachsen kann. Der besondere Duft der goldenen Frucht wird seit Jahrhunderten geschätzt und seine Essenz als Basis zur Kreation kostbarer Parfüms benützt. Bis in die 50er Jahre war das Bergamottenöl der bedeutendste Einkommenszweig der Bauern in der Region. Sie planten ihre finanziellen Ressourcen anhand der Anzahl der Blüten an ihren Bergamottenbäumen und dem daraus geschätzten Ertrag an Öl; zwei Liter der kostbaren Essenz hatten damals den Wert eines neuen Fiat 500.Akkord II – Traditionen
Mit der wärmer werdenden Sonne erlangen die Orangenblüten ihre volle Pracht und hüllen die Südspitze von Kalabrien in einen betörend honigsüßen Duft. Der Anbau von Zitrusfrüchten ist in dieser Region in den Händen von Familienunternehmen, die ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben. Der Familienzusammenhalt ist entsprechend ausgeprägt und Jahrhunderte alte Gepflogenheiten und Traditionen bleiben erhalten. Das kulinarische Erbe alter Zeiten entdeckt der Besucher der Region als erstes. Zahlreiche Agriturismi gewähren mit traditionellen Gerichten Einblick in eine der geschmackvollsten und vielseitigsten Küchen Italiens, eine unvergleichliche Armada an Aromen.Akkord III – Verborgene Zeichen
Der kalabrische Künstler Mimmo Rotella macht sich in seiner Décollage „C‘era una volta“ ein Werbeplakat des gleichnamigen Filmes zu nutzen, das er zerreißt und als Ausgangsmaterial für sein Kunstwerk verwendet. Im Märchenfilm wird die schöne Landmagd Isabelle, gespielt von Sophia Loren, vom passionierten spanischen Prinzen Rodrigo, gespielt von Omar Sharif, erobert. Der Décollage-Stil setzt einen dramatischen Kontrast zu dem romantischen Filmplakat. Bewusst oder unbewusst beschreibt Mimmo Rotella damit sehr charakteristisch das kalabrische Terroir mit seiner versteckten Vielschichtigkeit. In den kleinen Fischerdörfchen an den mediterranen Stränden der Bergamotteanbauregion, finden viele Einwanderer ein neues Zuhause und bringen damit neue Einflüsse ins traditionelle kalabrische Leben. So siedelte sich in einem dem Terroir benachbarten Dorf eine Gemeinschaft von pakistanischen Sikhs an. Mit ihren farbigen, kunstvoll gebundenen Turbanen und den langen Bärten haben sie das Dorfbild nachhaltig verändert. Außerdem prägen sie das kulturelle Leben, zum Beispiel mit dem Verkauf von orientalischen Speisen oder dem leichten Geruch von Sandelholz und Weihrauch, der aus den Tempeln in die Gassen strömt. Das hinter der Küste gelegene Aspromontengebirge ist jedoch auch die Heimat der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, die als eine der gefährlichsten kriminellen Organisationen der Welt angesehen wird. Ihre Mitglieder verstecken sich in den kleinen Dörfern im Gebirgszug mit seinen engen Tälern, den bizarren Felsformationen und den fast endlos scheinenden, kurvigen Straßen. Ihre Präsenz hinterlässt bei den Einwohnern ein schales Gefühl. Ob sich die Vielschichtigkeit der Décollage in Mimmo Rotellas Kunstwerk effektiv eine Anspielung auf diese Beobachtungen sind, bleibt das Geheimnis des 2006 verstorbenen Künstlers.“
Pietrapennata ist das Städtchen, das dem Längen- und Breitengrad von Richard Lüscher Britos am nächsten kommt: Ganz im Südosten gelegen, dem südlichsten Zipfel des Stiefels, der Region Kalabrien. Zitrusfrüchte und Italien – eine naheliegende Verbindung, die das Herz von 38°N 16°E bildet: Bergamotte, Orangenblüte und Sandelholz, das liest sich bereits so sonnig, dass ich mich halb im Urlaub wähne. Wärme, Frische, zitrische Anleihen, duftende Blüten und Würzigkeit – mmmmhhhh …
Hesperidenaromen von exzellenter Qualität sind einfach etwas Herrliches, findet Ihr nicht? Ein Grund, weshalb ich gut gemachte klassisches Colognes so schätze: Agrumenfrüchte stimmen einen einfach fröhlich und heiter mit ihrem sonnigen Gemüt. Mal abgesehen davon, dass es längst nicht jedes Parfum schafft, sie wirklich plastisch und saftig und reif abzubilden, ist es mir immer wieder eine Wonne, wenn dies einem Parfumeur gelingt.
Jean-Claude Richard, der auch bereits den Kolumbien-Duft für Richard Lüscher Britos kreierte, ist dies mit 38°N 16°E gelungen: Herbe, zitrisch prickelnde, leuchtend-saftige Bergamotte in Kombination mit honigsüßen Orangenblüten, sonnengewärmt und von einem Hauch bitterem Blattgrün umrankt. Sandelholz ist selbstredend der perfekte Begleiter für unser schönes Duo: Warm, von einer dezent süßen Würzigkeit, holzig-samtig und mit einem leichten Hauch Seifigkeit versehen.
Unser Kalabrier ist ein schlichter, aber dennoch oder vielmehr: gerade deswegen entzückender Geselle. Ich will eigentlich nicht schon wieder Bauhauspionier van der Rohe zitieren mit seinem „Less is more“, tue es aber letztendlich doch. Manchmal, meiner Meinung nach recht häufig, liegt die Schönheit in der Einfachheit – wie auch bei Starparfumeur Jean Claude Ellena, unserem Minimalisten, meistens zu beobachten. Perfektion ist eben nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern dann, wenn man nichts mehr weglassen kann. 38°N 16°E setzt dieses Motto gekonnt olfaktorisch um und bezaubert uns mit seinem heiteren Hesperidengemüt. Testen, meine Lieben!
Morgen erwarten uns die letzten zwei Düfte aus dem Hause Richard Lüscher Britos – Ihr dürft gespannt sein!
Viele liebe Grüße,
Eure Ulrike.
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