… liegen die Überreste von Tenochtitlan: Seit 1987 zählen die Fundamentreste, von denen bis zum heutigen Tage gerne mal noch ein paar ausgegraben werden, zum Weltkulturerbe. Tenochtitlan, die Stadt des Ténoch, war die Hauptstadt der Azteken während deren gesamter Herrschaftszeit, die von Anfang des 14. Jahrhunderts bis ins späte 16. Jahrhundert reichte. Bei deren Entdeckung im 16. Jahrhundert lebten dort über 100.000 Menschen, was Tenochtitlan zu der größten Stadt auf dem amerikanischen Kontintent als auch zu einer der weltweit größten Städte der damaligen Zeit machte.
Dorthin entführen uns Arquiste, und zwar mit Flor Y Canto, den Rodrigo Flores-Roux kreiert hat. Wenden wir uns erst einmal diesem Herrn zu, der auch schon gestern bei dem ersten Arquiste-Duft L’Etrog die Fingerchen mit im Spiel hatte: Dieser Herr hat uns schon mit einigem erfreut – zum Beispiel mit Donna Karans Black Cashmere sowie mit Labdanum und Wenge aus ihrer Essence Collection, als auch mit Gold, auch damals im Zusammenspiel mit Yann Vasnier, mit dem er bei Arquiste nun eine erneute Zusammenarbeit pflegte bei einigen Düften der Marke. Darüber hinaus hat er etliches für John Varvatos gemacht, eine, wie ich finde, ziemlich beachtliche Duftlinie, Jasmin Rouge und Neroli Portofino aus Tom Fords Private Blend-Kollektion sind von ihm genauso wie Houbigants Neuauflage ihres Klassikers Fougère Royale. Das ist doch erst einmal eine Ansage, oder nicht?
Lassen wir uns aber nicht aufhalten und reisen wir mit Flor y Canto nach Mexiko, genauer: Nach Tenochtitlan in den August des Jahres 1400. Vom Azteken-Kalender ist da die Rede und dem Rhythmus von Trommeln, der die Fülle eines Blütenmeeres heraufbeschwört – kein Wunder, der August, zumindest die erste Hälfte des Augustes ist „das kleine Totenfest“ oder auch Geburt, Kommen der Blumen, Blumenopfer genannt, Tlaxochimaco. Totenfeste gab es etliche in der Welt der Azteken – und auch in der Kultur der kastilischen Eroberer hatte der Tod eine bisweilen ähnliche Bedeutung, insofern verwundert es auch nicht, dass sich in der mexikanischen Kultur bis heute der Día de los Muertos gehalten hat. Der Tod als selbstverständlicher Bestandteil des Lebens stellt einen wichtigen Aspekt jener Tradition her, die im Kern aztekische Wurzeln hat. Flores-Roux beschenkt uns hier mit einem üppigen, ob seiner exotisch-narkotisierenden Wirkung bestens zu rauschenden Festen passenden Bouquet: Wolken von Copalharz ziehen als Kulisse für den berauschenden Hauch der Tuberose auf, für die Magnolie, Plumeria und das intensive gelbe Aroma der heiligen Tagetes, Cempoalxocbitl. Was für eine Darbietung – ein Geschenk für die Götter, oder? Genau das werden wir jetzt testen.
… und ach, was soll ich sagen… Tuberose, Magnolie, Frangipani und Tagetes vereinen sich in Flor y Canto laut der Zutatenliste, vielleicht auf einer kleinen Harzbasis, die ist mir aber ehrlich gesagt völlig egal im Moment: Diese Tuberose, diese Tuberose… Weiß, wächsern, fleischig, verlockend – das ist Sünde und Sinnlichkeit in Reinform. Was für eine Männerfresserin, denke ich mir schmachtend – und zücke gleich wieder den Handrücken. Opulenz, weißblühende, reinweiße, zuckerwattige, cremige und… gefährliche, denn diese Tuberose hat es in sich. Das ist eine jener Baudelaire-Tuberosen, die an dessen opiumgeschwängerte Frauen denken lässt. Das ist – nagende Versuchung und… Gift. Irgendwo. Aber eines, das man sehenden Auges verzehren möchte. Austrinken, Schluck für Schluck. Sich hineinwerfen. Magnolie? Ja, verhalten, wässrig im Hintergrund. Frangipani – hätte auch Ylang sein können, ein die Süße, die verruchte, der bisweilen minzig-pilzig anmutenden Tuberose verstärkend. Dieser Nektar ist – Sucht.
In der aztekischen Sprache bedeutet „in Xocbitl in Cuicatl“, „Flor y Canto“ – Blume und Lied und ist eine Metapher für die Poesie. Poesie hatten wir jetzt schon – ich sage: Baudelaire, alleine schon wegen der Tuberose. Aber – diese Brennen, es könnte auch Neruda sein. Allerdings… je länger ich dieser Tuberose folge, je länger ich ihr folgen muss, desto… leiser wird sie – wie ein Hauch der Erinnerung. Sie ist – verhangen, fern, aber dennoch nah, irgendwann. Wie übriggeblieben nach lodernder Leidenschaft, verheißungsvoll, süß und zart. Und erinnert mich insofern an ein ganz bestimmtes Gedicht von Baudelaire, dass ich Lyriknerd Euch nicht vorenthalten möchte – „Das Haar“:
O Vlies des Wellen auf die Schultern fluten! O Locken, schwer von müdem Wohlgeruch, Erinnerungen, die da träumend ruhten, Verzückung fühl‘ ich durch den Abend gluten, Breit‘ ich die Locken wie ein wehend Tuch. Asiens Schmachten, Afrikas Erglühen, Die Ferne fühl‘ ich, längst verwehte Luft, Duftenden Wald aus deinen Tiefen sprühen. Mag Andrer Geist auf Tönen schwellend blühen, Der meine, Liebe, schwimmt auf deinem Duft. Dorthin, wo Baum und Mensch voll Saft und Leben In Sonnenglut sich dehnt zu langer Rast, Seid Flechten, Wellen mir und lasst mich schweben, Meer, schwarz wie Ebenholz, du sollst mir weben Den Traum von Segel, Flamme, Ruder, Mast. Träumend will ich des Hafens Lärm durchschreiten, Tief atmen will ich Duft und Ton und Licht, Wo Wellen schwer wie Gold und Atlas gleiten, Die mächtigen Schiffe ihre Arme breiten Zur ewigen Glut, die brausend niederbricht. Tief tauche ich mein Haupt von Liebe trunken, Ins dunkle Meer, drin jenes andre ruht, Mein Sinn, umschmeichelt und ins Spiel versunken, Erkennt dich wieder, Trägheit, Lebensfunken, Ewiges Wiegen lässig müder Flut. Du bläulich Haar, Tempel voll Finsternissen, Um mich gebreitet webst azurnen Raum, Ich trink‘ auf weicher Locken flaumgem Kissen Berauscht den Duft den süssen, Ungewissen Von Bisam, Teer und Öl vom Kokosbaum. Lang, immer werd‘ ich auf die schweren Strähnen Rubinen streuen, Perlen, Saphirstein, Dass nie du taub wirst meinem Wunsch und Sehnen, Oase meiner Träume, meiner Tränen Kelch, draus ich schlürfe der Erinnrung Wein.… und wer es etwas rustikaler mag, den entlasse ich für heute mit einem echten Original – Alice Coppers „Poison“: „Your cruel device / your blood, like ice / One look, could kill / My pain, your thrill / I want to love you but I better not touch (don’t touch) / I want to hold you, but my senses tell me to stop / I want to kiss you but I want it too much (too much) / I want to taste you but your lips are venomous poison / You’re poison, running through my veins…“ (P.S.: Vergebt ihm und mir die 80er…)
Liebe Grüße,
Eure Ulrike, süchtig.
WOW!!!!! Das ist eine Rezension, die einem das Innerste herauskehrt … habe sie erst gerade gelesen und ich glaube, das ist auch gut so, denn zum Frühstückskaffee wäre das zu viel gewesen – und wieder Baudelaire, werde mir als Bettlektüre mal die Originalfassung raussuchen. Wieder ein großes Kompliment an Dich, Ulrike, für die mitreißenden Worte, da muss man ja Lust aufs Ausprobieren bekommen.
Begeisterte Grüsse, Susanne
PS: die 80er Jahre verschmähe ich auch keinesfalls, hab mir gerne mal wieder“Poison“ angehört!
Hallo liebe Susanne,
vielen lieben Dank für die virtuellen Blumen 😉 Freut mich, dass Dir mein(e) Artikel gefällt/gefallen 🙂
Viele liebe Grüße,
Ulrike.