Lena Meyer Landrut gewinnt den „Eurovision Song Contest“ – denn ganz Europa hat sich in dieses Mädchen verknallt.
„We make or break a Star“, sagen die Medien gerne. Aber: eine 19jährige Schülerin aus Hannover schaffte die Sensation. Europas Darling zu werden, ganz ohne Bild-Zeitung und die fast übermächtige Hit-Maschinerie von RTL. Und sogar gegen die Meinung des „Spiegels“. Eine Absage an dümmlichen Boulevard-Journalismus, ein grandioser Sieg für das, worauf es beim Grand Prix doch eigentlich ankommt: einfach gute Musik
1982 gewann Deutschland das erste Mal den Grand-Prix de la Chanson, mit Nicoles „Ein bisschen Frieden“. Das Erfolgsrezept damals: Bescheidenheit. In einer Zeit, in der Kalter Krieg und die Anti-Atomkraftbewegung die Medien beherrschten (in Deutschland war zwei Jahre zuvor die Partei „Die Grünen“ formal gegründet worden), kletterte eine 17jährige Schülerin barfuss auf einen Barhocker in Harrogate und sang, die Gitarre nachdenklich unterm Arm, von Frieden, nur begleitet von ihrem Mentor und Entdecker, Ralph Siegel. Die Zeit war damals einfach reif für eine neue Gattung beim etwas träge und zu politisch daherkommenden „Grand Prix de la Chanson“. Das süße Mädchen verkörperte den neuen Zeitgeist. Offenes Walle-Haar statt braver Mittelscheitel-Bobs, ein weißes Kleidchen statt schrill-bunter (und irgendwie zu bemühter) Disco-Fummel. Nicole wurde über Nacht berühmt, ein Liebling der Medien, und in der 55-jährigen Geschichte des Grand Prix der einzige Sieg für Deutschland.
Seit dem hat sich viel geändert. Der Grand Prix heißt mittlerweile „Eurovision Song Contest“, das Interesse einiger Länder erlahmte und erstarb schließlich (Z.B. Italien), seit dem Auseinanderbrechen Russlands schustern sich die baltischen Länder aus Sympathie die Punkte nur gegenseitig zu, feiern so ihr neues Selbstbewusstsein und erteilen Jahr für Jahr somit dem „alten Europa“ eine schallende Ohrfeige. Doch dann kam Lena…
„Mein Geheimrezept is… äh, naja, … so sein wie ich bin…“
Sie trägt blaue Unterwäsche, lackiert sich die Zehennägel und lässt schon mal für Ihren Liebsten das Licht auf der Veranda an (zumindest im Song-Text zu „Satellite“): Die 19jährige Schülerin aus Hannover, die gerade an ihrem Abitur bastelt, gewinnt Stefan Raabs „Unser Star für Oslo“ -Contest. Und stolpert in eine schon lange nicht mehr da gewesene mediale Aufmerksamkeit. Plötzlich interessieren sich alle Fernseh- und Zeitungsmacher für das hübsche Mädchen. Denn Lena ist anders. Sie ist süß, unverfälscht, ehrlich, provokativ. Alle wollen ein Stück von ihrer sensationellen Wirkung erhaschen, sie quält sich von Interview zu Interview und beweist dabei vor allem eines: Man muss nicht „Everybodys Darling“ sein, um ein Star zu werden. In einer Pressekonferenz antwortet sie auf die Frage einer RTL-Reporterin, wie wichtig es sei, jemanden aus der „Family“ dabei zu haben (Gähn! Wirklich eine hoch-clevere Frage) mit einem herzhaften: „Nöööööööt“.
Es folgt unheilschwangeres Schweigen in den Reihen der Journalisten. Wie war das bitte? So kann ein Newcomer doch nicht mit den heiligen Medien umgehen. Und Stefan Raab legt nach: „Man muss auch nicht jede Scheiße beantworten, Lena. (…) Muss Frauke Ludowig halt mal ohne so’n Käse auskommen.“ Die Reaktion: spontaner Applaus der anwesenden Journalisten. Seien wir ehrlich, wie oft haben wir uns das bei Promi-Interviews und Star-Zoom-Quatsch in Zeitungen und Fernsehen schon gedacht! Nur zu sagen hat es sich keiner getraut. Bis auf Lena. Sie erteilt dümmlichen Allerwelts-Fragen von Presseleuten regelmäßig eine Abfuhr, wildert dabei sogar in den eigenen Reihen. Noch am Abend des Grand Prix, wenige Stunden vor ihrem Auftritt, zeigt sie sich extrem genervt von TV-Total-Moderator Matthias Opdenhövel und seinen wenig schlauen Fragen. Und Stefan Raab? Amüsiert sich königlich dabei.
Hierzulande sind wir gewohnt, dass „Stars“ bei RTL gemacht werden. Dieter Bohlen feiert mit seinen Casting-Shows enorme Einschalt-Quoten. Seine DSDS-Kandidaten stehen im Rampenlicht. Nur, Lena ist eine Pro-Sieben-Geburt. Prompt nimmt RTL die Konkurrenz als Aufforderung zur Schlammschlacht und kramt aus Lenas Vergangenheit Nackt-Fotos heraus, stellt sie als mediengeil dar. Sind wir so in der Gewalt von eines Fernsehsenders, das ein Produkt eines anderen nieder gemacht werden darf? Ähnlich ausgehebelt die „Bild“-Zeitung: Stefan Raabs Hassgegner bekam kurzerhand eine Interview-Sperre verhängt, wurde zu Pressekonferenzen und zur großen Lena-Party nicht eingeladen. Die große Quizfrage: Kann ein Promi ohne Bildzeitung heutzutage überhaupt noch zu etwas kommen?
Und sogar der „Spiegel“, der sich bekanntlich für die Krone des Kultur-Journalismus hält, ist schnell bereit, den Star, der so anders ist, in die mediale Pfanne zu hauen. Online postet man den Beitrag eines englischen Autors, der Lenas Fantasie-Dialekt auseinandernimmt und ihr seltsames Englisch verhöhnt. Überschrift: „Unsere Westerwelle für Oslo“… wirklich eine Sternstunde der Prä-Grand-Prix-Berichterstattung.
Lena probt die mediale Anarchie, manche mögen das als Arroganz auslegen, mir gefällt es ausgesprochen gut. Sie ist wie eine kleine Piratin, die sich nicht verbiegen mag, lieber rotzig rüberkommt als angepasst und somit einen ganz neuen Typus „Star“ kreiert: den Selbstdenker. Anders als die DSDS-Kandidaten oder Heidi Klums Next Topmodels muss man eben doch nicht in jede Kamera lächeln und jede doofe Frage höflich aber sinnentleert beantworten. Fragen á la: „Wie kurz wird Lenas Kleid beim Auftritt sein?“ mag manchen „Bild“-Leser zwar ernsthaft beschäftigen, ich finde das aber nebensächlich. Viel interessanter: Während die anderen Eurovision-Grazien in den unvermeidlichen bodenlangen Roben auftraten (und außer der übergewichtigen Island-Vertreterin sahen sie alle eher bescheiden darin aus), entschied sich Lena eben für „Das Kleine Schwarze“. Eine neue Bescheidenheit, die gut ankommt. Keine furiose Bühnenshow, keine eingeölten (man könnte auch sagen: schmierigen) Tänzer, keine teure Choreografie. Lena stellte sich am 29. Mai ungekünstelt auf die Bühne, dezent gestylt und wunderschön natürlich, nur mit einem prägnant-dunkelroten Lippenstift. Den Rest musste die Musik schaffen. Und sie schaffte es, Deutschland hat gewonnen! Zwar nicht so haushoch wie Norwegen ein Jahr zuvor, aber immerhin mit respektablem und bequemen Punkte-Vorsprung vor der zweitplatzierten Türkei. Punkte kamen sogar aus Ländern, die uns sonst eher weniger bedenken: Douze Points aus der Slowakei, aus Lettland, Finnland, Norwegen, Spanien und der Schweiz, 10 aus Slowenien, Albanien, der Türkei, 8 aus Serbien. Insgesamt holt sich Lena 246 Punkte.
In guter Tradition: Unsere 12 Punkte gehen an die Türkei.
Es gibt nun mal einige unumstößliche Regeln bei der Punktevergabe des Grand Prix. Deutschlands Höchstpunktzahl geht an die Türkei, das ist schon lange so. Zypern favorisiert Griechenland, die Balkan-Länder schustern sich gegenseitig die Punkte zu, aus treuer Nachbarschaftsliebe – selbst, wenn das Lied noch so schlecht sein mag.
Doch dann 2010. Die Sensation! Schon als Deutschland gegen halb zwölf Uhr nachts die ersten Punkte erhält (3 aus Rumänien), spürt man, es hat sich etwas geändert. Englische Buchmacher, die als besonders versiert gelten, hatten es in ihren Wettbüros bereits Wochen vor dem Finale prophezeit – Deutschland werde siegen! Aber hierzulande wollte das so recht keiner glauben. Zu stark sei die Konkurrenz, zu gut die musikalische Qualität vieler Beiträge. Und das Mädchen mit den dunklen Haaren der Presse gegenüber etwas zu ablehnend vielleicht.
Das ist wie im echten Leben: Wer sein Privatleben vor anderen schützt, wird schnell als hochnäsig abgestempelt. Journalistischen Tiefgang beweist das leider nicht. Und irgendwie hatte man die letzten Tage vor dem großen Finale auch das Gefühl, die Berichterstattung habe das Ziel aus den Augen verloren. Primär sollte es doch um gute Musik gehen, und nicht darum, was ein Kandidat anzieht, isst, wo er herkommt oder „wann er auf die Toilette geht“, wie es Lena selbst kritisch in einem Interview anmerkte.
Mir selber sagte die Chef-Redakteurin einer großen deutschen Zeitschrift einmal, sie bezweifle, dass ich die nötige Beauty-Kompetenz habe. Denn, so ihre Vermutung, wenn ich morgens in die Redaktion käme und sie mich fragen würde, welchen Lidschatten Rhianna am Samstag auf der-und-der-Party getragen habe, dann könne ich nicht antworten. Sie hatte recht. Ich hätte die Frage nicht beantworten können. Weil es mir egal ist. Weil ich nicht der Meinung bin, dass solche Nebensächlichkeiten wichtig sind. Reden wir doch wieder mehr über das Wesentliche, nämlich die Leistungen eines Stars.
Kommen wir doch noch mal auf die schlaue Spiegel-Überschrift zurück: „Unsere Westerwelle für Oslo“. Denn auch in der Politik ähnelt unsere journalisitische Leistung immer mehr dem amerikanischen Standard: Statt um Inhalte geht es um persönliche Befindlichkeiten. Beispiel Schröder: Hat sich der Kanzler die Haare gefärbt? Trägt er einen Brioni-Anzug? Beispiel Westerwelle: Spricht der Außenminister nicht gut genug Englisch?
Umso erfreulicher, dass es nun doch eine kleine Person geschafft hat, ohne Rückenwind von Bohlen, Klum und Frauke Ludowig ihren Weg zu gehen. Und prompt von ganz Europa die Quittung erhalten hat: Deutschland ist wieder wer, wenn es um Musik geht.
Und deswegen freue ich mich so für Lena. Und auf eine Chance, die unsere Generation so noch nicht hatte: Den Grand Prix Eurovision live im eigenen Land zu erleben.
Danke Lena, weiter so!
Ihr Constantin Herrmann.
12 Punkte, lieber Constantin !
und einen schönen (verregneten) Dienstag
liebe Grüße, Angelika
Chapeau ! Und, mit Lena sozusagen singend ( und der Refrain steht auch für das Ganze) :
… if you don’t like my accent – I sing the song again.
lg, Martina
Schließe mich den 12 Punkten von Angelika an!
Endlich mal jemand, der nicht von Bohlen zum „Superstar“ gekürt und von RTL gepusht wird! Sehe und höre diese „Stars“ eh nur auf RTL. Bin Radiotechnisch auch sehr bewandet, aber Merzad habe ich da noch nicht gehört. Kenn ich überhaupt sein Lied???? *mal kräftig die Stirn kraust* — SHIT das darf ich ja nicht, gibt ja Falten 🙂
LG,
Margot